Geschrieben am 11. August 2008 von KPBaumgardt
Seit gut zehn Jahren dringt ein neues Wort in unseren Sprachgebrauch ein, bei dem man sich fragt, wie die Wissenschaft früher ohne diesen Begriff auskommen konnte:
Evidenzbasierte Medizin (EbM, von englisch evidence-based medicine „auf Beweismaterial gestützte Heilkunde“)
Die EbM erlaubt Aussagen, die auf der Grundlage von nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden. Der Wirksamkeitsnachweis erfolgt dabei durch statistische Verfahren.
Was Evidenz bedeutet, liegt ja eigentlich auf der Hand und ist „augenfällig„; bei einer Studie des „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ (IQWIG) spielte sie eine besondere Rolle:
Das Institut hatte vom „gemeinsamen Bundessausschuss“ (?) den Auftrag bekommen, „bereits bestehende Disease-Management- Programme (DMP) um ein Modul zur Adipositas-Therapie zu ergänzen.“
[Ärzteblatt]
Auf Deutsch gesagt, geht es um einen Baustein zur Verringerung des Übergewichts in der Bevölkerung, das seuchenartige Ausmasse annähme.
Man will also vielleicht politisch handeln und hätte gern eine verbindliche Richtschnur, eine Leitlinie:
Keine eigene Prüfung der Evidenz
Zusammen mit externen Sachverständigen haben die Kölner Wissenschaftler systematisch nach evidenzbasierten Leitlinien zum Thema Adipositas recherchiert. In einem ersten Schritt bewerteten sie deren methodische Qualität. Danach extrahierten sie die darin enthaltenen Empfehlungen und prüften, inwieweit diese … auf hochwertigen Studien beruhen. Insgesamt konnten die Wissenschaftler 10 Leitlinien einschließen. Erneut überprüft wurde die Evidenz, die den einzelnen Empfehlungen zugrunde lag, allerdings nicht.
Man hat also Studien und Anleitungen zum Abspecken im Hinblick auf erwiesene Wirksamkeit durchgesiebt, wobei das Kriterium „Evidenz“ von den geprüften „Leitlinien“ selbst mitgebracht werden musste.
Somit
konnten die Wissenschaftler in den Leitlinien vergleichsweise viele evidenzbasierte Empfehlungen zur Gewichtsreduktion identifizieren.
Anders stellte sich die Situation bei den Versorgungsaspekten Einteilung, Monitoring, langfristige Gewichtsstabilisierung sowie bei Qualitätsindikatoren und der Koordination der Versorgung dar. Hier gibt es nur wenige Empfehlungen, die … durch hochwertige Studien belegt sind.
Üblicherweise ist es kein besonderes Problem, einem Patienten Ratschläge, wie er abnehmen kann, zu geben, aber schon schwieriger, sein weiteres Schicksal im Auge zu behalten. Wie der Verlauf sich langfristig entwickelt, und was eine gute langfristige Betreuung wäre – dazu gibt es zu wenige Aussagen.
Und auch, was hilft, teilt das IQWIG mit:
Zur Gewichtsreduktion gelten kalorienreduzierte Ernährung, körperliche Bewegung sowie verhaltenstherapeutische Verfahren als Mittel der ersten Wahl. Sie sollten möglichst kombiniert werden. … Bestimmte Erkrankungen können eine Gewichtsreduktion schon bei relativ geringem Übergewicht erfordern.
Es scheint, als ob diese (kommenden) Leitlinien nicht viel Neues bringen. Formal haben die Wissenschaftler sicherlich korrekt gearbeitet, auch offengelegt, wie sie ermittelt haben.
Wenn Patienten professionell betreut werden sollen, kann man mit Leitlinien und Qualitätsmanagement etwas erreichen, vorausgestzt, die Leitlienien stimmen und das QM greift – so die Annahme.
Faktisch ist der Umfang der ärztlichen und therapeutischen Betreuung jedoch begrenzt und unter den gegebenen Umständen nicht ausbaufähig, und die Übergewichtigen, die eigentlich in Behandlung gehören würden, betreiben „fröhliche Selbstmedikation“.
„Leitlinien zur Vorbereitung strukturierter Behandlungsprogramme“ greifen – gemessen am tatsächlichen Verhalten der Zielgruppe und den beschränkten Ressoucen bei der geforderten Behandlung – voll daneben.
Die „Krankheitseinsicht“ hat bei den Übergewichtigen etwas schizophrenes: Heilung wird zum Teil auf eine Art gesucht, die krank macht. Wir sehen das an den Fragen, die „die Leute“ haben; diese Fragen sind zum Teil vernünftig, zum Teil zeugen sie von äußerst unrealistischen Erwartungen:
„die besten tipps schnell und viel abnehm“
„mayo 1 el gramm“
„abnehmen kostenlos“
„ingwer diät“
„nudel diät“
„rezept kürbis kartoffel“
Dies war eine zufällige und unsortierte Stichprobe aus den Suchanfragen. „Schnell und viel abnehmen“ ist ein häufig geäußerter Wunsch, der bekanntlich auch ständig geschürt wird (gelbe Presse usw.), und es werden Erwartungen geweckt, die ziemlich direkt zum Jo-Jo Effekt führen.
Was eine evidenzbasierte Meta-Studie auch nicht leisten kann, ist, die Perspektive, übergewichtige Individuen als Subjekt mit der Fähigkeit zur eigenständigen Lösung ihres Problems zu sehen.
Zudem: Niemand, der im Gesundheitssystem arbeitet, scheint Zeit übrig zu haben. Wer soll denn da Programme durchführen?
Sind Übergewichtige in der Rolle als Subjekt und nicht als Objekt, bekommt „Helfen“ und „Behandeln“ eine etwas andere Bedeutung, und der „Experte“ gibt, den Umständen entsprechend, seinen Status weiter.
Wo „das Phlegma“ ursächlich ist, muss heutzutage natürlich differenzierter diagnostiziert werden. Depression, ADS, psychosomatische Probleme, ein „Entwicklungsrückstand“ auf der oralen– oder Trotzphase, narzisstische Defizite und Langeweile sind hier schon genannt worden.
Die Unordnung, die mit dem ADS verbunden ist, wird manchmal gar nicht, und selten als mentales Problem verstanden.
Im Hintergrund scheint hier ein Gefühl von Hilflosigkeit und Abhängigkeit, eine passive Haltung mit überstarken Wünschen, geholfen zu bekommen, zu bestehen. Gleichzeitg gibt es starke Widerstände und Schamgefühle, diese Wünsche zu äußern.
Eigeninitiative wird allenthalben nur theoretisch gefordert, aber nicht praktisch gefördert – wahrscheinlich, weil es hierzu keine evidenzbasierten Studien gibt.
Die Seuche, gegen die das DMP sich richten wird, wird von einem eigenartigen Virus verursacht: Fragt sich, ob auch die stärkste Medizin, die das DMP bereithält, bis zu den tiefen Strukturen, in denen die Krankheit verwurzelt ist, vordringt und etwa Einsicht ermöglicht, und hilft, gesündere Strukturen zu errichten.
Ein wenig Zuspruch und Trost kann da nicht schaden:
Abnehmen kann also auch nicht automatisch all diese Probleme lösen, und man kann nicht erwarten, dass das Leben allein durch Gewichtsverlust leichter wird.
Es ist nicht einfach, abzunehmen und das erreichte Gewicht zu halten. Wenn Sie dies schaffen, ist das eine große Leistung. Ein solches Ziel erreicht zu haben, könnte Ihnen auch für zukünftige Herausforderungen mehr Kraft und Selbstvertrauen verleihen.
Durch „Abnehmen und Gewicht halten“ eine Zunahme an Selbstvertrauen zu versprechen, ist angesichts des allgemeinen Jo-Jo Effekts nur bei einer Minderheit gerechtfertigt. Die Mehrheit braucht eine qualifizierte Begleitung von unbestimmter Dauer.
Vielleicht gälte es auch, Konzepte der Psychoedukation noch einmal zu überarbeiten und für funktionierende Selbsthilfegruppen Konzepte zu entwickeln; aus dem Pool der „halbwegs bewährten Maßnahmen“ das Beste herauszufiltern, kann nicht genug sein.
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