Die Gesundheitspolitik ist auf die Selbsthilfegruppen angewiesen – und umgekehrt
Geschrieben am 3. Oktober 2007 von KPBaumgardt
„Wenn Du etwas lernen möchtest, dann frage die Erfahrenen, und nicht die Gelehrten“
– so zitierte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt am Montag ein chinesisches Sprichwort.
Auf der Fachtagung der hessischen SPD-Landtagsfraktion unter dem Motto
Selbsthilfe – Lobby für Patientinnen und Patienten
verwies auch Andrea Ypsilantis einleitend darauf, dass den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten teils unzureichend entsprochen wird, sie also sowohl eine Lobby brauchen, wie sie sich auch um ihre eigenen Belange selbst kümmern (müssen).
In der Zukunft der Gesundheitspolitik, so Schmidt, würden die Forderungen, die Selbsthilfearbeit zu stärken, lauter werden. Die Bedingungen werden schwieriger, wenn die Bevölkerungszusammensetzung sich ändert, mehr alte Menschen mehr chronische Krankheiten entwickeln, also dauernd krank sind und dauernd behandelt bzw. versorgt werden müssen: Vor 30 oder 40 Jahren hatten die Ärzte, so gesehen, eindeutig weniger zu tun, als in der Zukunft.
Da das Pensum größer wird, werden bei realistischer Betrachtung auch Nicht-Ärzte im Gesundheitswesen stärker eingebunden werden müssen (Wobei die Diskussion, ob es z.B. im psychiatrischen Bereich immer krankenpflegerisch oder sozialpädagogisch ausgebildetes „Pflegepersonal“ sein muss, schon längst geführt werden könnte).
Bei Behandlung und Forschung haben Selbsthilfegruppen ihre Aufgabe auch bei der Frage des Informationsflusses; zielgenaue Angaben sind allgemein ausgebildeten Ärzten bei speziellen Fragen oft unmöglich.
Medizinische Kompetenzzentren für schwierige Krankheiten können wertvolle diagnostische Arbeit leisten, wenn die Spezialisten bei Bedarf auch konsultiert werden können.
Zu gering ausgebildet ist bei seltenen Krankheiten das Problembewusstsein, aber auch „moderne Epidemien“ wie Alzheimer und Demenz fallen noch unter ein gesellschaftliches Tabu; damit die mögliche Prävention und Früherkennung geleistet werden kann, bedarf es größerer Sensibilität – und verbesserter Pflege- und (geriatrischer) Rehabilitationsarbeit.
Vorgelegt werden soll bis zum Ende des Jahres ein Gesetz zur Förderung der Prävention – wobei auch die „Mitbeteiligung der Betroffenen bei Entscheidungsprozessen“ festgeschrieben werden soll. Was das die 2,5 bis 3 Millionen in Selbsthilfegruppen „Organisierten“ heißt – läßt sich noch nicht genau sagen; schlimmstenfalls mehr Entfremdung und Funktionalisierung durch „irgendwelche“ Geschäftsstellen, Gelehrte und Experten, trotz „Ehrenkodex“ der SHG’s.
Die „Durchorganisation“ der Selbsthilfegruppen bis hin zu einem Bundesverband ist augenscheinlich unvermeidlich.
Spezielle Fragen und Probleme
Altenwohngemeinschaften könnten eine Form der Lebensgemeinschaft sein, die künftig eine Perspektive darstellt. Ein wenig abstrakt erscheint bisher die Unterstützung solcher Anliegen durch den Verband der Wohnungswirtschaft, obwohl die Kundenwünsche auf dem Tisch liegen.
Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) ist eine Beeinträchtigung, die nicht adäquat aufgefangen wird. In Regel-, Realschule und Gymnasium gibt es die für die Diagnose ausgebildeten Lehrer nicht, Kinder und Jugendliche mit ADS werden nicht so weit wie möglich gefördert, die medikamentöse Behandlung kann fragwürdig sein und ist ohne therapeutisch-pädagogische Begleitung streng genommen sowieso kontrainduziert.
„Wer heute nicht gefördert wird, scheitert mit hoher Wahrscheinlichkeit später auf dem beruflichen Feld.“
Psychiatrieerfahrene sind oft ohne Mut, wenn es darum geht, etwas im Bereich der Selbsthilfe aufzubauen. Deshalb wurde der Bedarf an geschulten Helfern beim Aufbau von Gruppen angemeldet.
Während Krankenkassen sich beim Referentenhonorar allgemein oft aufgeschlossen zeigen, hat es bei der Einladung von Therapeuten schon Einwände gegeben, „weil keine Therapie stattfinden darf“.
Angeborene Herzfehler sind zwar selten, aber desto problematischer: Ein medizinisches Feld, das nicht groß genug ist, dass die Pharmazie hier Gewinnchancen sähe. Die Verlängerung des Patentschutzes für solche „Sondermedikamente“ könnte hier etwas helfen.
Parkinson-Patienten mit gewissem Pflegebedarf „landen“ schon als junger Mensch im Altersheim, wenn für frühe Pflegefälle keine adäquaten Wohngruppen geschaffen werden.
Zöliakie ist unheilbar und macht eine wirklich strenge Diät überlebensnotwendig. Bezeichnend für den Ausbildungszustand ist es, wenn es schon Fälle gegeben hat, in denen Zölikiepatienten für geheilt erklärt wurden.
Die Diagnose erfolgt oft erst sehr spät, nach einer langen Periode unerklärlicher Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes und Stress, der die Krankheit wie die fehlende Diät verschlimmert.
Wer wenig Geld hat und glutenfreies Brot kaufen muss, hat ein Problem, spätestens, wenn z.B. die Brille hinfällt.
Diabetes könnte zum Mehrheitsproblem werden – in diesem Zusammenhang wurde die „Bildungsfrage“ gestellt und auf die Eigenverantwortlichkeit hingewiesen.
Bluthochdruck: Auch hier gibt es Selbsthilfegruppen, die beabsichtigen, den „mündigen Patienten“ zu fördern und „Gräben zwischen Ärzten und Kliniken“ hinweg wünschen.
Borreliose ist ein Problem, für das keine Zahlen vorliegen. Bei den Ärzten wird der Pflicht zur Fortbildung zwar entsprochen – das Fortbildungsangebot (und das begehrte Begleitprogramm) richtet sich aber nach den Interessen der Ausrichter.
Stotterer machen ein Prozent der Bevölkerung aus. Davon merkt man nichts – es mag an mangelnder Aufklärung der Bevölkerung liegen, und auch die stotternden Frauen leben wohl überdurchschnittlich zurückgezogen.
Das Problem der Eltern-Kind-Entfremdung erscheint zwar durchaus nachvollziehbar, dürfte jedoch allgemein nicht bekannt sein. Es gibt eine Selbsthilfegruppe mit dieser Thematik, die jedoch dürfte wenig öffentliche Unterstützung erfahren.
Die Selbsthilfe nach Krebs berichtete von allzu unempathischen Ärzten: „Sie haben ja doch nicht mehr lange zu leben“. Weitere Fortschitte in der Psychoonkologie erscheinen dringend angeraten; Nervenerkrankungen und Depressionen durch mangelnde Hilfe sollten überflüssig sein.
Körperbehinderte im Krankenhaus haben oft schlechte Karten: Das Maß an Betreuung, das für sie notwendig ist, steht im normalen Krankenhausbetrieb nicht selbstverständlich zur Verfügung. Es wurde von „Folgeschäden infolge Krankenhausaufenthalt“ berichtet.
Übergewicht ist eine viel beklagte Zivilisationskrankheit, die für die Betroffenen mit Scham- und Schuldgefühlen verbunden ist. Essen als Ersatzhandlung und Engagement in Selbsthilfe vertragen sich nicht: Die Erkrankung wird heruntergespielt; Selbsthilfegruppen in diesem Bereich muss man mit der Lupe suchen.
Perspektiven
Die Rolle von Selbsthilfegruppen (nicht nur beim Informationsfluss) ist vielfältig: Bei der Suche nach guten Ärzten kann eine kompetente Empfehlung Gold wert sein. Nicht undenkbar ist, dass auch Ärzte am „Wissen der Betroffenen“ teilhaben können.
Immer noch arbeitet das Internet mit Hypertext und liefert auf dieser Grundlage ein Beispiel, wie Vernetzung funktioniert. Davon können auch Selbsthilfegruppen sich eine Scheibe abschneiden bzw. daraus eine Leitidee ableiten.
(Regionale) Kooperation etwa im administrativen Bereich ist theoretisch denkbar, aber auch das Feld „Gesunde Ernährung“ ergibt Gemeinsamkeiten, die ausgebaut werden können; eine gewisse Marktmacht besteht ja auch auf der Konsumentenseite – eigentlich.
Defizite in der Fortbildung und/oder Supervision der Gruppenleiter von SHG’s sollten nicht übergangen werden; deren Belastung kann sehr groß sein, während ihre Arbeit für selbstverständlich genommen wird.
Auch um die Ärztegesundheit steht es nicht zum Besten, wofür z.B. Alkoholiker besonders sensibel sein können, wenn sie das Alkoholproblem des (dann möglicherweise zynischen) Behandelndelnden erkennen.
Das gelegentlich noch massive Ständedenken im Gesundheitswesen halte ich nicht für ein feudales Relikt, sondern für einen narzisstischen Selbstschutzmechanismus derer, die sich mit einer Rolle als Halbgott identifizieren – aber auch solche „Weißkittel“ können nur mit Wasser kochen.
Raum- und Präsenzprobleme der Selbsthilfegruppen sind für deren Arbeit sehr hinderlich. Auf kommunaler Ebene wird hier eine unnötige Hemmschwelle für den Aufbau von SHG’s aufgebaut.
Hinsichtlich der Volkskrankheit Adipositas, für deren Behandlung die Zauberformel immer noch aussteht: Für ein begleitetes Modellprojekt „Wunschgewicht mit Eigeninitiative“ soll hier ein Konzept erstellt werden.
Der kostenlose Diättipp zum Abschluss:
Am 1. Oktober 2007 ist in Hessen das allgemeine Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden in Kraft getreten.
Ganz ohne Gesetz und Dekret lässt sich für die Gesundheit umsetzen: Bei der Verpflegung auf Veranstaltungen überwiegend Vollkornprodukte anbieten und auf raffinierten Zucker verzichten.
Weiterlesen bei:
Selbsthilfe bei Adiositas/Übergewicht
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