Binge-eating – eine Essstörung
Geschrieben am 7. Juli 2009 von KPBaumgardt
Wenn die Binge-Eating-Störung sich im “Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie” (Janssen) findet, bedeutet das auch, dass hier auch psychische Faktoren als krankheitsverursachend angenommen werden.
Zur Definition der Binge-Eating-Störung:
Wiederholte Episoden von “Fressanfällen”. Ein Fressanfall ist gekennzeichnet durch:
- Essen einer Menge an Nahrungsmitteln in einem abgrenzbaren Zeitraum, die definitiv größer ist, als die meisten Menschen essen würden
- Verlust der Kontrolle über das Essen
Die “Fressanfälle” treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:
- Wesentlich schneller essen als normal
- Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl
- Essen großer Mengen ohne körperliches Hungergefühl
- Allein essen, aus Verlegenheit
- Deprimiertheit, Ekel- oder Schuldgefühle nach dem “Fressanfall”
- Es besteht ein deutlicher Leidensdruck wegen der “Fressanfälle”
Innerhalb der Gruppe der Adipösen, die unter ihrem Übergewicht leiden und ärztliche oder psychologische Hilfe sucht, ist binge-Eating mit rund 30 Prozent relativ hoch; der Anteil der Binge-Eating-Störung in der Gesamtbevölkerung wird mit ca einem bis drei Prozent angegeben.
“Im Vergleich zu nicht-essgestörten adipösen Menschen ist bei Patienten mit Binge-Eating-Störung die psychische Komorbidität höher”.
Komorbidität: unterschiedlich diagnostizierbare und eigenständige Krankheitsbilder treten nebeneinander bei einem Patienten auf; insgesamt ungünstiger Krankheitsverlauf. … Die moderne Medizin hat sich inzwischen dem Thema Komorbidität verstärkt zugewandt, sodass nun Krankheiten, die auf den ersten Blick getrennt zu betrachten sind, nun eher in einen Zusammenhang gesetzt werden.
Allgemein lässt sich feststellen, dass besonders häufig Depressionen und Angstzustände als komorbide Symptome auftreten. Die Ursachen für die verschiedenen Krankheitssymptome und deren Zusammenhänge zu erkennen, ist eine neue Herausforderung für die behandelnden Ärzte. vgl. hier
Im Vordergrund stehen
- affektive Störungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Die Entwicklung der Adipositas beginnt anamnestisch früher.
- generell hohe Energieaufnahme
- direktes Verhältnis von Psychopathologie und dem Grad der Essstörung
- Der psychopathologische Befund ist mit dem Ausmass der Adipositas assoziiert.
Anlässlich des Diätetik-Kongresses 2006 gab es eine Pressemitteilung:
Eine primäre Psychogenese ist bei einer Subgruppe adipöser Menschen zu finden, bei denen die Nahrungsaufnahme neben der Sättigung der Regulation negativer Affekte dient. Die Störung der Affektregulation ist bei einer Vielzahl von psychischen Störungen zu finden, wobei insbesondere Angststörungen, depressive Störungen und Essstörungen im Vordergrund stehen.
Als eine Extremvariante gestörten Essverhaltens wurde in den letzten Jahren die Binge Eating-Störung beschrieben. „To binge“, deutet mit „fressen, saufen“ schon auf die Kernsymptomatik der Binge Eating-Störung hin, den Heißhungeranfall, der aber nicht von regelhaften gegenregulatorischen Maßnahmen wie es die Diagnose der Bulimia nervosa vorschreibt, begleitet wird.
Während die Binge Eating-Störung in der Allgemeinbevölkerung mit einer Prävalenz von ein Prozent bis drei Prozent ähnlich häufig auftritt wie die Bulimia nervosa, ist sie in Stichproben von adipösen Menschen, die unter ihrem Übergewicht leiden und ärztliche oder psychologische Hilfe zwecks Gewichtsreduktion aufsuchen mit rund 30 Prozent relativ häufig.
Am interessantesten ist vielleicht der folgende Abschnitt:
Die Erfolge konservativer Gewichtsreduktionsmaßnahmen bei Adipositas Grad zwei sind gering. Nach fünf Jahren haben 85 bis 95 Prozent wieder ihr altes Gewicht erreicht beziehungsweise deutlich überschritten. Bei Adipositas Grad drei sind die Erfolgsaussichten noch geringer. In der Regel steigt das Körpergewicht nach Beendigung der Behandlungsmaßnahme wieder an.
Wie bei kaum einer anderen Krankheit divergieren in der Adipositasbehandlung die Behandlungsziele zwischen Patient/Klient und Behandler erheblich, die negativen Implikationen für die therapeutische Beziehung werden allerdings selten reflektiert.
Das heißt, hier beginnt man ganz vorsichtig, auf die Notwendigkeit einer Reflektion der “therapeutischen Beziehung” hinzuweisen, ohne aber gleich von einer Supervision zu sprechen. Und: Wenn das Körpergewicht nach dem Behandlungsende wieder ansteigt, müsste endlich die Konsequenz gezogen werden: Eine geeignete Dauerbehandlung anzubieten.
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Abgelegt unter: Gesundheit, Wissenschaft und Forschung | 11 Kommentare »
Vielen lieben Dank für diesen Artikel. Es gibt leider noch viel zu wenig Informationen darüber. Ein Großteil der Bevölkerung kennt es noch nichtmal. Traurig, dass es so lange gedauert hat, bis es überhaupt erst als Essstörung anerkannt wurde.
Danke, Rio!
Das hat sich heut so ergeben mit dem Artikel, wegen der Wortbedeutung von „Binge“. Und da musste ich, als Fressnet-Betreiber, doch einfach 😉
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Man lernt nie aus! Ich denke die Probleme das Essverhalten in den verschiedensten Formen werden noch lange heiß diskutiert. Und deshalb muss ich diesem Beitrag durchaus zustimmen. Hier sollte viel Arbeit investiert werden, damit Personen die davon betroffen sind besser mit der Situation umgehen können. Am meisten fällt es mir auf – seitdem ich mich selbst mit meiner Ernährung auseinandersetze! Hier kann man bei vielen sehr gut sehen, dass sie essen, obwohl sie nicht essen müssten. Sei es aus der Laune heraus. Bei einem Gespräch – immer muss etwas Essbares und ein Kaffee dazugehören.
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@ Jens: Störungen im Essverhalten werden nun mal selten offen diskutiert. Medizinische Fachtexte sind extrem verklausuliert, eben nicht für die Patienten gedacht.
Ob ich das Thema noch weiter ausbauen soll – weiß nicht. Allein zur Therapie bei Binge-Eating noch etwas mehr zu schreiben, wenn man es „gründlich“ machen will, ist schon verdammt viel Arbeit.
[…] werden können – immer mal wieder eine “pharmakologische Vision”, die mit der Realität der Vielesser wenig zu tun hat, eine tumbe Hoffnung, die vom Handeln abhält, die Ursachen der Misere beibehalten […]
[…] beruht anscheinend auf einer soliden Unkenntnis der Ursachen des Übergewichts: Binge-Eating (anfallsartiger Nahrungsmittelkonsum) und andere Hintergründe (etwa Depressionen) sind nicht so leicht zu diagnostizieren und zu […]
[…] zu lösen, und mit Fragen der Libido souverän umzugehen. Dabei galten feste Regeln, und Fressanfälle hätte man wahrscheinlich als Anzeichen eines (heilbaren) Liebeskummers […]
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[…] einem früheren Beitrag zu “Binge-eating” hier noch ein […]