Geschrieben am 5. Dezember 2006 von KPBaumgardt
Triggern – übersetzen wir das mal mit “unangenehm berühren” könnte Euch vielleicht die folgende Episode, wegen des Inhalts und weil es ein Versuch ist, mit einem Buch ins Gespräch zu kommen – so etwas macht “man” ja eigentlich nicht. Also: Lesen auf eigene Verantwortung.
Übergewicht und seine seelischen Ursachen – das war immerhin ein Versuch, etwas zu erklären und von der Wurzel her, radikal, zu bekämpfen (Doris Wolf, 1985). Mein Exemplar ist ein gebrauchtes, es springt beim Durchblättern immer auf Seite 78/79 auf.
Da fragt mich Frau Wolf ganz interessiert: “Wie häufig haben Sie schon die Eltern verurteilt, weil diese Sie scheinbar nicht bedingungslos angenommen haben?”
“Was heißt da “scheinbar nicht bedingungslos” ? Es gab Zeiten, in denen ich mehr, und Zeiten, in denen ich weniger angenommen wurde. Bedingungslos war nicht. Aber ich bin doch kein Richter, der ein Urteil zu sprechen hätte. Im Gegenteil, ich habe immer sehr viel Verständnis für meine Eltern gehabt – die lauteste Kritik, die ich an meinen Vater je geübt habe, war, dass er in mancher Situation ruhig etwas mehr Profil hätte zeigen können.”
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“Und heute tun Sie dasselbe sich selbst an! Sie kritisieren sich, wenn Sie Fehler machen, und machen sich die gleichen Vorwürfe, die Ihre Eltern Ihnen früher gemacht haben.” |
“Nun, Sie wissen doch, wie das ist. Wer hätte nicht diese malignen Introjekte, die einem nun mal nicht gut gesonnen sind. Streng genommen bin ich es ja nicht selbst, der sich kritisiert. Und in der Außenwelt gibt es auch noch ein paar überkritische Stimmen. Meine Eltern, ach, die waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und waren den Vorwürfen, dem Agieren meiner Geschwister ausgesetzt.”
“Die Tatsache, dass Ihre Eltern Sie nicht vollkommen akzeptiert haben und Erwartungen an Sie gestellt haben, ist kein Grund, dass Sie ihre Eltern heute verurteilen.“
“Wollen Sie mir jetzt unterstellen, dass ich meine Eltern verurteile? Da kenne ich Andere, die das gemacht haben, und jetzt die Mutter verehren und … aber warum erzähle ich Ihnen das, Sie wollen mich doch nur belehren, ein gleichberechtigter Dialog ist das ja wohl nicht.”
“… Es genügt, wenn sie es (das Verhalten der Eltern) akzeptieren als das Beste, was diese geben konnten. … Verzeihen Sie … Ihren Eltern…”
“Was, wenn nicht eine Schuld, gibt es denn zu verzeihen? Und zum letztenmal: Ich sehe keine Schuld, und bin Kein Richter. Andere, die wesentlich mehr Freiheiten hatten, haben mir wesentlich größeres Unrecht angetan, als die Eltern. Und Sie, Sie haben Ihr Buch bestimmt nicht für mich geschrieben – das mache ich jetzt zu, und bringe noch ein Zitat aus einem anderen Buch.”
Viele ziehen es vor, “… ihre frühesten Wahrnehmungen in der Verdrängung zu belassen, die Wahrheit nicht zu sehen, die Taten zu beschönigen und sich mit der Idee der Vergebung zu arrangieren. So bleiben sie weiter in der kindlichen Erwartungshaltung gefangen.” (MILLER 2004, S. 84)
“Verzeihung, Bitte um Vergebung, werte Autorinnen: Genug! Auch, gerade, wenn Sie die Schuld in die Frühzeit zurückverlegen, wird es nicht besser als bei der katholischen Kirche: Wir kommen zu einer Art Erbsünde, zu einem tiefen Schuldgefühl, das in uns selbst ist, mit dem wir umgehen, wenn wir den Eltern entweder “verzeihen” oder mit ihnen “abrechnen”, sie schuldig sprechen. Wenn Sie schon von Schuld sprechen: Was ist denn Schuldgefühl? Geht es da nicht auch mal um dunkle Seiten in uns selbst, auch bei Ihnen? Sie reden von “Einstellungen und Gefühlen” und Sie haben das reine Herz? Reden wir nicht alle um den heißen Brei herum?”
Die Abhängigkeit des Kindes von der elterlichen Liebe kann nicht diskutiert werden, und elterliche Liebe ist auch egoistisch und hat ihre Grenzen. Kindheit ist Vergangenheit, kindliche Ansprüche: Etwas zu bekommen, versorgt zu werden, werden mit zunehmnder Autonomie überflüssig und aufgegeben. Oder auf ein anderes Objekt übertragen: „Was leistest Du denn überhaupt?“
Das vierte Gebot, nämlich die Eltern zu ehren und zu achten, ist kein Gebot, zu lieben und sich zu unterwerfen, es ist keine Erpressung, kein Zwang, sondern eine Empfehlung. Ohne diese Achtung, die ja keine Konformität voraussetzt, kann ich mir auch keine Selbstachtung vorstellen.
Die Problematik der verurteilten Eltern, über die hier so heftig geschrieben wurde, gibt es tatsächlich. Was das jetzt mit meinem Übergewicht zu tun hätte, wäre eine andere Frage. Es gibt ja auch Justizirrtümer, Fehlurteile. Und posthume Achtung, um das Gebot scheinheilig doch noch zu erfüllen. Widerliches, selbstgerechtes Unrecht, ganz ungesühnt, ohne Skandal.
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