Fettsucht – Definition, Entstehung und Therapie vor 120 Jahren

Ein Lexikoneintrag von 1885 zu “Fettsucht”, also über 120 Jahre alt, lässt Rückschlüsse auf veränderte Sichtweisen zu diesem Phänomen zu.

Ich habe den Fettsucht-Artikel mit Zwischenüberschriften und Kommentaren aufgearbeitet, und die wichtigsten Punkte hervorgehoben.
Von einem großartigen Erkenntnisfortschritt ist jedoch nicht viel zu merken…

Fettsucht (Korpulenz, Obesitas, Lipomatosis universalis, Polysarcia, Pimelosis), übermäßige Anhäufung von Fett, welche den Körper schwerfällig macht, seine Funktionen behindert und das Leben in mehr als einer Hinsicht bedroht.

Wenn es gar eine altgriechische Bezeichnung (“Pimelosis”) für Fettsucht gibt, fragt man sich, ob es “Fettsucht” nicht schon immer gegeben hat. Eine

  • In mehrfacher Hinsicht lebensbedrohliche Fettansammlung

muss gegeben sein, um die lexikalische Definition zu erfüllen.
Das heute gebräuchliche “Adipositas” (“Bei der Adipositas (lat. adeps = fett) bzw. Fettleibigkeit, Fettsucht, Obesitas (selten Obesität; im engl. aber fast nur „obesity“) – Quelle: Wikipedia) war noch nicht üblich…

Die Stellen des menschlichen Körpers, an denen sich im normalen Zustand Fettgewebe befindet, dienen bei Fettleibigkeit zunächst zur hochgradigen Ablagerung von Fett, und erst bei höhern Graden von F. finden die Fettablagerungen auch an solchen Lokalitäten statt, an denen sich im normalen Zustand wenig oder kein Fett befindet.

  • Über Quantitativ unterschiedliche Fett-ansammlung(en) an üblichen oder ungewöhnlichen Körperstellen wird der Grad der Fettsucht bestimmt

Demgemäß findet sich das Fett unter der Haut (Panniculus adiposus), besonders unter der des Bauches, in großer Menge, ferner im Gekröse, im Netz, im Dickdarm und um die Nieren herum; selbst auf dem Herzen, im Innern der Leberzellen (Fettleber), zwischen den Muskeln und in andern Organen häuft es sich an. Die leichtern Grade der F., welche man als Embonpoint oder Korpulenz bezeichnet, verursachen kaum einige Beschwerde. Selbst bei schon beträchtlichem Umfang erfreuen sich die Leute oft noch eines vortrefflichen Wohlseins, eines sehr guten Appetits, einer sehr heitern Stimmung und ihrer vollen Körperkraft.

  • Zwischen einfacher Korpulenz und Fettsucht ist zu differenzieren

Sicherlich wäre damals niemand auf die Idee gekommen, das Bild des “fröhlichen Dicken mit dem guten Appetit” als Fassade, bei der etwas anderes dahinterstecken muss, zu interpretieren. Solches psychologische Problematisieren und Hinterfragen ist neueren Datums…

In den höheren Graden jedoch, namentlich wenn sich die F. sehr schnell ausbildet, stellen sich mehr oder weniger beträchtliche Störungen der Gesundheit ein, z. B. Muskel- und Gehirnschwäche, Verdauungs-beschwerden, Atemnot, Störungen in der Herzbewegung, Schwindel etc.

  • Krankhafte Fettsucht geht mit Muskel- und Gehirnschwäche, Kreislauf- und Verdauungsbeschwerden einher; Abbauprozesse und schwache Konstitution

Die “Rückbauprozesse” im Gehirn unterliegen heute allgemein einem Tabu; darüber spricht man nicht, und Ärzte warnen eher vor orthopädischen Folgeschäden oder solchen, die Diabetes betreffen, als vor hirnorganischen Folgen. Die traurige Tatsache solcher Beschädigungen beim hochgradigen Alkoholismus ist vielleicht weniger tabuisiert. 

In Bezug auf das Gewicht und den Umfang des Körpers fettsüchtiger Personen finden sich unglaublich scheinende Angaben. Ein Kind von vier Jahren wog 41, ein andres ebenso altes 68, ein zehnjähriges 109, ein vierjähriges Mädchen sogar 128 kg etc. Der Engländer Bright wog in seinem zehnten Jahr 70 und bei seinem Tod 308 kg, ein andrer Engländer 250 kg; ein in der "Neuen Sammlung medizinischer Wahrnehmungen" (Bd. 3, S. 370) beschriebener Mann wog 400 kg und hatte 2,5 m im Umfang; ein von Wadd ("Die Korpulenz als Krankheit, ihre Ursachen und ihre Heilung etc.", aus dem Englischen, Weim. 1839) gesehener Mann wog 490 kg. Bei der Leichenöffnung fand man eine unglaublich starke Fettschicht, die in dem Menschen von 400 kg 16-18 cm Höhe hatte.

Solche Schilderungen bekommen wir heute per TV frei Haus, etwa bei “Alarm auf der Waage” – es wird dann gerne von einer “Zeitkrankheit” gesprochen und quer Beet verallgemeinert…

Ursachen der Fettsucht

Unter den prädisponierenden Ursachen ist am wichtigsten die Erblichkeit. In gewissen Familien werden alle Mitglieder sehr fettleibig, und "Fettkinder" sind nicht allzu selten. Die F. tritt zuweilen schon in den ersten Lebensjahren, bald nach dem 20., am häufigsten bei Männern um das 40., bei Frauen um das 45.-50. Lebensjahr auf.
Neben der erblichen Anlage ist die fehlerhafte und unzweckmäßige Ernährung der häufigste Grund zur Fettleibigkeit; eine zu reichliche Nahrungszufuhr, welche zu große Mengen Fett, Eiweiß und Kohlehydrate (Zucker, Stärke) bietet, oder einseitige fehlerhafte Ernährung bedingen die pathologische Fettansammlung, welche auch durch übermäßigen Alkoholgenuß erzeugt werden kann.

Diese Bereitschaft für ein krankhaftes Geschehen aufgrund konstitutioneller/genetischer Faktoren wird noch heute gerne vorausgesetzt, wenn auch mit der Epigenetik  mittlerweile der Fokus mehr auf der Lebensgeschichte liegen sollte.
Auf die “Vererbung” der Einstellung zum Leben und Essen oder der psychischen Regulation innerhalb der “Familientradition” wurde nicht eingegangen…

Dazu kommen als begünstigende Momente Mangel an körperlicher Bewegung, anhaltende Unthätigkeit, träger Stoffwechsel etc. Hieraus erklärt sich, daß gewisse Gewerbe (Schlächter, Brauer) Fettansammlung zur Folge haben, daß Phlegmatische mehr zur Fettsucht neigen und Frauen im klimakterischen Alter besonders häufig davon betroffen werden. Auch gewisse ethnologische und klimatische Verhältnisse (feuchtes Klima) spielen eine gewisse Rolle. Angeerbte oder erworbene Disposition, zu reichliche Nahrungsaufnahme, unzweckmäßige Ernährung und unzweckmäßige Lebensweise sind demnach als Entstehungsursachen anzusehen.

  • Neben der genetischen Disposition sind zu reichliche Ernährung, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, Umweltfaktoren und der Charakter zu den Ursachen der Fettsucht zu rechnen

Die Herkunft der Fette bei der Fettsucht

Das im Körper sich bildende Fett wird aus verschiedenen Stoffen gebildet; einmal kann aus dem Fette der Nahrung Fett im Körper zur Ablagerung kommen (Liebig, Toldt, Radziejewsky, Hofmann), sodann steht fest, daß die vom Körper aufgenommenen tierischen und pflanzlichen Albuminate zur Fettbildung beitragen (Hoppe, Pettenkofer, Voit), indem bei der Eiweißzersetzung Fett entsteht, und daß wahrscheinlich bei großen Gaben auch die Kohlehydrate zur Fettbildung beitragen. Schließlich hat Munk auch die synthetische Fettbildung aus Fettsäuren nachgewiesen. Der Fettansatz erfolgt demgemäß

  1. aus zu großem Fettreichtum der Nahrung,
  2. durch Überschuß von Fett, welches aus zersetztem Eiweiß abgespalten ist,
  3. aus unzerstört gebliebenem Fett, welches durch Kohlehydrate geschützt oder aus ihnen gebildet ist, und
  4. endlich dadurch, daß die Fähigkeit der Zellen zur Stoffzersetzung verringert wird, wie es bei Alkoholgenuß und geringer Körperbewegung der Fall ist (Voit).

Erstaunlich, dass der Artikel völlig ohne die Begriffe “Kilokalorien” und “Kalorienbilanz” auskommt. Das buchhalterische Durchrechnen von Grund- und Leistungsumsatz ist eine neuartige “Modeerscheinung”. 

  • Körperfett entsteht bei zu viel Zufuhr von Fett, Eiweiß oder Kohlenhydraten aus der Nahrung, und/oder durch Störungen aufgrund von Alkoholkonsum und/oder zu wenig Bewegung

Therapie der Fettsucht

Diesen verschiedenen Ursachen der Fettbildung entsprechen nun auch die Mittel, das abgelagerte Fett zum Verschwinden zu bringen, und der jedesmaligen individuellen Ursache der Fettentstehung muß die Fettentziehungskur entsprechen. Wo ein Überschuß gewisser Nahrungsstoffe die Ursache der Fettleibigkeit ist, muß dieser beseitigt werden.

  • Die kausale Therapie der Fettsucht muss auf den Einzelfall abgestimmt sein

Fleisch essen, um Fett loszuwerden

Die Bantingkur bezweckt durch reichhaltigen Fleischgenuß Vermehrung der Eiweißration und Verminderung der Aufnahme von Fett- u. Kohlehydraten. Sie ist rationell, wird aber erfahrungsgemäß bei der großen Einschränkung der stickstofffreien Nahrungsmittel nur zeitweise vertragen. Voit schlägt vor, reichlich Eiweiß zu geben (natürlich nicht so viel, daß daraus Fett sich ansammelt) und dazu geringere Mengen von Fett oder von Kohlehydraten oder von beiden, als zur Ernährung notwendig sind, so daß der Körper eine kleine Menge von Fett einbüßt. Man wählt demnach fettarmes Fleisch und gibt den Leidenden in den vegetabilischen Nahrungsmitteln (z. B. grünen Gemüsen) Fett und Kohlehydrate in so geringer Menge, daß Tag für Tag eine kleine Quantität von Körperfett abgegeben werden muß.

Eine Kur, viele merkwürdige Maßnahmen

Die Fettzersetzung wird dann noch unterstützt durch Körperbewegung, wenig Schlaf, kalte Bäder etc. Örtel und Schweninger stellen die Beschränkung der Getränkezufuhr in den Vordergrund, speziell in den Fällen, wo es sich um Zirkulationsstörungen infolge der F. handelt. Die Verdauung und Resorption der zugeführten Nahrungsmittel soll bei Beschränkung des Getränks bedeutend schneller vor sich gehen, und es wird häufigere Zuführung kleinerer Quantitäten von Nahrungsmitteln empfohlen.

Sport und Bäder

Stokes und Örtel kombinieren die Methode mit forcierten, mit Schweißbildung verbundenen Muskelbewegungen, welche besonders bei Herzschwäche mit großer Vorsicht und steter Rücksichtnahme auf die übrigen Organe und den Kräftezustand gehandhabt und geregelt werden müssen. Eventuell sind sie durch Wasserentziehungen (römisch-irische Bäder) zu ersetzen.

Mit Kohlenhydratrestriktion gegen die Fettsucht

Ebstein entzieht in der Nahrung fast ganz die Kohlehydrate (Zucker, Stärke), während er bei hinreichender Eiweißmenge Fett geben läßt. Das Gefühl des Sattseins wird dabei erreicht, der Durst aber herabgesetzt. Die relativ geringe Fettmenge leistet nach ihm als kraftgebender Nahrungsstoff soviel wie eine 2,5mal so große Menge von Kohlehydraten.

Die erste Formula-Diät

Tarnier verordnet ausschließlich Milchgenuß. Dazu kommen noch Mineralwasserkuren, besonders in Marienbad, Karlsbad, Kissingen und Homburg, wo aber neben dem Wassergebrauch systematische diätetische Kuren und geeignete Lebensweise (Kisch-Marienbad) durchaus erforderlich sind. Abführmittel und Jodpräparate sind veraltet und nutzlos.

Bedingt erfolgreiche Maßnahmen beim “Kampf gegen die Fettsucht”

Alle verschiedenen Methoden haben, in richtiger Weise angewandt, Erfolg; aber sie können nur da wirksam sein, wo sie den gerade gegebenen Ursachen der Fettbildung im einzelnen Fall entsprechen. Sie müssen je nach der Individualität und nach den Ursachen der Fettvermehrung gewählt und eingeschlagen werden, bedürfen aber der ärztlichen Auswahl und Überwachung, da alle Kuren von der Bantingkur bis zur Wasserentziehungskur in gewissen Fällen recht gefährlich werden können.

  • Die Behandlung der Fettsucht war in hohem Maße Glückssache. Konnte der Arzt die richtige Therapie finden oder nicht? War der Klient in der Lage, die Kur zu bezahlen? Wie erfolgreich würde die Kur ausfallen, und wie lange vorhalten?

Literatur

Vgl. Banting, Letter on corpulence addressed to the public (Lond. 1864, 4. Aufl. 1881); Vogel, Korpulenz, ihre Ursachen, Verhütung und Heilung (20. Aufl., Berl. 1882); Kisch, Fettleibigkeit der Frauen im Zusammenhang mit den Krankheiten der Sexualorgane (Prag 1872); Ebstein, Die Fettleibigkeit und ihre Behandlung (6. Aufl., Wiesb. 1884); Maas, Die Schweninger-Kur (Berl. 1885); Örtel, Die Ebsteinsche Flugschrift über Wasserentziehung (Leipz. 1885).(Quelle)

Die damals angeführte Literatur wird heute nicht mehr rezipiert. Immerhin scheint sie Hinweise auf eine sexuelle Ätiologie der Fettsucht (bei Frauen, “natürlich” nicht bei Männern) zu geben.

Meyers Konversationslexikon,

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlussbemerkung:

Die historischen Ansätze zur Therapie der Fettsucht wirken aus heutiger Sicht improvisiert, rührend und hilflos.
Allerdings lässt sich das für heutige “Therapien” auch behaupten. Die anfängliche Forderung nach einer Ursachen-orientierten Therapie der Fettsucht wurde inzwischen offenbar fallen gelassen. Statt der Fettsucht, um die sich gegebenenfalls der Arzt kümmern würde, haben wir heute die “Adipositas”, und die dürfen die Patienten selbst kurieren.

Und auch bei den leichteren Graden der Fettsucht, die an sich Körpergefühl, Fitness und Wohlbefinden gar nicht einschränken müssten, macht die Gesellschaft Stress. Und die Ärzteschaft: Wenn ein Arzt bei eher leichtem Übergewicht “Präadipositas” diagnostiziert, klingt das für den Patienten wie ein böses Omen. So, als müsse sich aus der “Präadipositas” zwangsläufig das Vollbild entwickeln, so, als maße der Arzt sich an, Prophet zu spielen.

In den Medien – als sei das erfolgversprechend und zwingend notwendig, werden Diäten durchkonjugiert, aber nicht über  Diät informiert. Auf der anderen Seite schwingt das Pendel um zu “Keine Diät” und “Schluss mit schlank”. Oder, noch doller, zu “heute essen, morgen fasten”.

Ursachen-orientiert ist auch das nicht.

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2 Kommentare zu “Fettsucht – Definition, Entstehung und Therapie vor 120 Jahren”

  1. […] davon hat man ja auch lange nichts mehr gehört. Denn diese Seuche, Epidemie, Pest, von der wir da (seit 120 Jahren?) befallen sind, wehrlos und mit gestörtem Hirn, wird ausgerottet […]

  2. […] im deutschen Sprachraum vor 120 Jahren “Fettsucht” definiert und behandelt wurde, ist hier zu […]

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  • Sabrina: Schön, dass du bei der Bilanz dabei bist! Mit Spirulina und Algen zu experimentieren,...
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