Leibfeindliche Diäten
Geschrieben am 29. April 2009 von KPBaumgardt
In manchen Kulturkreisen ist die Kuh ja das Sinnbild der Friedfertigkeit und Duldsamkeit, und, wenn die Kuh ordentlich Gras und Heu, nicht aber Soja zu futtern bekommt, bewähren sich ihre sieben Mägen, und sie tut, was ihr den Beinamen „Wiederkäuer“ gegeben hat: Sie kaut das gegebene Futter noch einmal durch.
„Diäten sind wider den Körper“
lautete dementsprechend auch die „Original-Überschrift“ der Baseler Zeitung, die sich dann leicht zu „leibfeindliche Diäten“ transformieren ließ: Gunter Frank wurde interviewt, und, das Wichtigste zuerst: „Gewicht verliert, so der Arzt Gunter Frank, wer den Körper schätzt.“
Nun, das haben wir entweder schon einmal vermutet, erfahren, gedacht, gelesen oder bezweifelt – was daran wahr ist, erfahren wir erst im Selbstversuch, denn Franks Thesen sind ähnlich provokant wie die eines Uwe Pollmer – hängen aber vielleicht doch in der Luft, ohne mit den Füßen auf den Boden zu kommen.
Der Facharzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren führt im deutschen Heidelberg eine Privatpraxis mit den Schwerpunkten Stress- und Ernährungsberatung. Der 46-Jährige schrieb bereits mehrere Bücher und riskiert in seinem neuen lesenswerten Werk «Lizenz zum Essen» (Piper, Fr. 16.90) den Zorn einer mächtigen Industrie, indem er gnadenlos mit den Mythen «Diät» und «gesunde Ernährung» abrechnet, dafür aber neue Denkansätze bringt.
Die Diäten-Diskussion wird so allerdings nicht gerade versachlicht, baut man doch wieder auf einen Mythos auf: David gegen Goliath, an dem wir uns erfreuen sollen, indem wir lesen, was der Büchermarkt hergibt. Zwar hatte ich schon einmal gedacht, der Mann hätte etwas Neuartiges drauf, aber ein Satz wie dieser:
Ja, wir sollen uns schon fragen, in was für einer Art Gesellschaft wir eigentlich leben. Heute demonstrieren wir für ein freies Tibet und morgen mobben wir Leute, nur weil sie einige Kilos zu viel haben.
ist dann doch nur peinlich. „Free Tibet“ war gestern, und heute ist Wirtschaftskrise und Angst vor Armut, und Angst vor der Schweinepest, das „Dicke-mobben“ steht doch gar nicht an… Oder soll mit solchen Sätzen die mächtige Industrie, die Frank ja nicht im Mindesten angreift, besänftigt werden?
Wo es um Ernährung und Evolution geht, wird die Zeitperspektive schon mal komprimiert:
Vollkornprodukte passen so gar nicht mehr zu unserem heutigen Verdauungsapparat. Unser Dickdarm ist im Laufe der Evolution viel kürzer geworden, und dadurch kann der Darm bei diesen Lebensmitteln für uns unverträgliche Stoffe nicht mehr abbauen.
Während die Einen Weizen- oder Haferkleie propagieren, um notwendige Ballaststoffe zuzuführen, wird hier im Zusammenhang mit Vollkornprodukten von „unverträglichen Stoffen“ gesprochen – worum geht es eigentlich? Sind nicht die seit einigen Jahrzehnten immer größeren Mengen an Zucker (sogar im Müsli, oder Fruchtzucker als „gesunde Variante“) das Unverträgliche? Wie sollte die Evolution bei dieser Ernährungsumstellung binnen kürzester Zeit mitkommen?
Immerhin fressen wir kein Gras, das wäre wohl wirklich unverträglich…
Nicht umsonst hat der Mensch Kochtechniken entwickelt, die nichts anderes sind als raffinierte Prozesse, die den Lebensmitteln giftige Stoffe entziehen.
Ja, ja, Bohnen zum Beispiel sind roh giftig. Aber Äpfel?
Trotzdem: Die Kernthese ist ja durchaus eine Überlegung wert, wenn sie auch nicht strikt beweisbar ist:
Wenn die Leute lernen, dass sie beim Essen kein schlechtes Gewissen mehr zu haben brauchen und sich stattdessen lieber genussvoll ernähren sollen, löst sich auch der Stress. Und damit entwickelt sich auch die Schutzschicht in Form des Bauchfetts wieder zurück. Kurz gesagt. Der Verstand muss sich mit dem Stammhirn versöhnen, dann lässt es auch ein paar Pfunde los, die es für Notzeiten – Diäten – eingelagert hat.
Nur: Die genussvolle Ernährung „geht“ heute ja nur noch, wenn ich weiß, dass das, was ich da genießen soll, will, möchte, auch das Richtige – nämlich „gesunde“ ist; ich muss also zumindest halbwegs überzeugt sein, mir damit auch etwas Gutes zu tun.
„Beim Essen kein schlechtes Gewissen mehr zu haben brauchen“ –
das ist doch auch nur wieder eine unverdauliche These, auf der man, um zum Bild der Kuh zurückzukommen, länger herumkauen muss, bis sie sich erschließt, denn „das Essen“ gibt es gar nicht:
- Wer hat’s gekocht?
- Schmeckt’s?
- stimmt die Atmosphäre am Esstisch?
- die Tischkultur?
Aber auch die
Versöhnung von Stammhirn und Verstand
ist ein durchaus nettes, eigenständiges Kapitel. Zu denken ist hier an den „freien Willen“, die Mär vom notwendig „starken Willen“ und das Akzeptieren von Gier und Trieb, sozusagen.
Da wird immer die Rolle der Gene betont und vergessen, dass die Gene zuallererst die Abhängigkeit des Säuglings von der Mutter vorgeben. Genetisch bedingt ist die Sozialisation des Menschen durch den Menschen.
Und was diese „Schutzschicht“ betrifft, die ist zu anderen Zeiten auch schon als „Panzer“ beschrieben worden, der bei Anderen halt in Form von muskulärer Verspannung vorliegt. Das war aus dem Kapitel „Charakterlehre“; an das hat sich im Zusammenhang mit der Adipositas-Diskussion noch kaum jemand herangewagt.
Zudem: „Diäten sind wider den Körper“ – Ja, das stimmt; die körperlichen Bedürfnissse sollen einem von außen aufgesetzten Schema (hier: Der Ernährung) gehorchen. Spontaneität wird so ausgeschlossen: Wenn die Brigitte Erdbeeren vorschreibt, sind Stachelbeeren verboten.
Aber damit gilt auch: „Diäten sind wider die Psyche„. Weil „alles“ vorgeschrieben ist, bleibt jegliche Autonomie auf der Strecke. Wobei: Innerhalb der Charakterlehre wäre ein autonomer Charakter ja „das Höchste“, was überhaupt zu erreichen ist – und gleichzeitig ist es, bei Licht betrachtet, auch nur ein Idealbild, ein neuzeitlicher Mythos, orientiert am „freien Unternehmer“, der eigenverantwortlich und so weiter…
Leib- und Seelenfeindlich ist unsere durchschnittliche Umgebung, die den Gaumen mit aufgepeppten Schmeichlern kitzelt und die arme Seele zu überflüssigem Konsum verführen will, in der von der Autonomie nicht mehr viel übrig bleibt, der eigene Garten aus der Mode gekommen ist und die soziale Gemeinschaft auf der Strecke bleibt.
Märchen gelten einerseits als Kinderkram, und gleichzeitig wird das Hänsel- und Gretel-Motto „Knusper-knusper-knäuschen“ ständig wiederholt: Hier und da ein neuer „Knusperspass“, der ohne spezielle Verfahren und Zusatzstoffe gar nicht erreicht werden kann; die Nahrung wird infantilisiert und die Verpackung zum größten Verkaufsargument; wenn die Süßigkeit als Verpackung für eine Überraschung dient, wundern wir uns doch längst nicht mehr darüber, dass es so etwas gibt.
Das macht zwar manchmal kurzfristig „Spass“, ist aber auf Dauer auch nicht befriedigend, wenn das „Amüsement“ in Langeweile umkippt.
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