Der langsame Luther und die Essens-Reformation heute

Wenn die Geschichte nicht in den Geschichtsbüchern stände, müsste man sie erfinden – mit an die Kirchentür genagelten Thesen hatte eine Umwälzung des katholischen Systems begonnen, das unter Anderem Eintrittskarten in den Himmel verkaufte, für den „jüngsten Tag“, den Moment des Gerichts.

So ganz frei von Sünde hatten die Menschen im Mittelalter nicht gelebt, sonst wäre der Ablassbrief-Handel gescheitert, aber mit dem Aufkommen der „ketzerischen“ Thesen Martin Luthers fand das Ende der gekauften „Entsündigung“ einen vernünftigeren Grund.

Dabei waren auch Luthers Thesen nicht frei von Denkfehlern – was sich schon bei seinem Einstieg ins Thesenschmieden zeigte:

These 1: „Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‘, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“

Der Heiland/Erlöser/Herr und Meister mutet den Gläubigen die Büßerrolle zu, mit einer denkbar unwissenschaftlichen Begründung…

Aber so ist das: Eine These verlangt nach der Antithese, und vielleicht auch nach der Synthese…

 

Heute ist die Kirche für die Organisation der Gesellschaft wohl weniger entscheidend als vor  500 Jahren – die Missstände im heutigen System sind für eine entwickelte, „moderne“ Gesellschaft höchst unangemessen, so gravierend, dass wieder eine  (neue) Reformation  an der Zeit ist, oder der ins Stocken geratenen alten Reformation wieder etwas Anschub gegeben werden muss, wie  Slow Food Deutschland e.V. und Misereor mit ebenfalls 95 Thesen zum globalen Ernährungssystem darlegen:

„… Papst Franziskus hat zuletzt mit seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ den Blick über die Kirche hinaus auf die „Krankheitssymptome“ unseres Gesellschaftsmodells gelenkt.

SLOW FOOD und MISEREOR wollen mit ihren Thesen die sozial-ökologischen Herausforderungen des globalen Ernährungssystems an die „Kirchentüre“ der Zivilgesellschaft anschlagen. Umkehr oder Sündenbekenntnisse sind von der Agrarindustrie und Lebensmittelwirtschaft kaum zu erwarten, aber die Branche muss auf den Druck von Verbraucherinnen, Verbrauchern und Zivilgesellschaft reagieren.

Dieses Thesenpapier bietet die Chance, das Thema im großen Zusammenhang umfassend zu behandeln.
Wie von selbst wurde die Schöpfungsgeschichte zu einer Art Leitfaden für unsere Thesen über Nahrungsmittel und wie wir sie erzeugen und konsumieren. Die Erde rahmt unsere 95 Thesen am Anfang und Ende ein, dazwischen stehen Wasser, Boden, Klima, die Pflanzen und Tiere. Dann tritt der Mensch auf, mit seinen Bedürfnissen – Einkaufen, Essen, Genießen – seinem immer größeren Fußabdruck, der tiefe Spuren im Erdzeitalter
des Anthropozäns hinterlässt. …“

Die  „95 Thesen für Kopf und Bauch“ beziehen sich auf die Themen
  1. Planet Erde,
  2. Wasser,
  3. Boden,
  4. Klima,
  5. Pflanzen,
  6. Tiere,
  7. Einkaufen,
  8. Essen und Genießen,
  9. Globales Denken.

Die Thesen sind, wie sie sind, lesenswert, manchmal mit einer schönen rhetorischen Schärfe, manchmal so heiß, wie man sie nicht in den Mund nehmen möchte, aber auch grundsätzlich, dabei im Detail natürlich noch der Ergänzung bedürfend. Die Rolle von „Fair Trade“ ist angedeutet, wenn auch nicht explizit ausgeführt.
Der erwartete Druck von Verbraucherinnen, Verbrauchern und Zivilgesellschaft wird noch auf sich warten lassen – Qualität vor Menge ist eine Forderung, die rund ein Drittel der Gesellschaft sich kaum leisten kann, „altmodisch“ am Herd stehen und ein paar Groschen gegenüber dem Fast-Fertig-„Menü“ zu sparen, fühlt sich manchmal an, wie Geschirr von Hand zu spülen, statt es in die Maschine einzusortieren.
Die letzten 100 Meter vor Bio-Supermärkten, die ihren SUVs-fahrenden KundInnen etwas zu bieten haben, sind nicht asphaltiert, sondern geschottert…  Diese Konsumenten machen keinen Druck, denn sie fühlen sich in ihrer flauschigen Nische ganz gut, sind notfalls auch mit veganer Milch von  handbestäubten chinesischen Mandeln „glücklich“.

 

78 Staatsbankett und Kantinenversorgung, Festmahl und Arbeitsessen, Stadionbratwurst und Grillabend. Das gemeinsame Mahl ist die Grundlage menschlichen Zusammenlebens.

79 Was gibt es Schöneres als ein gemeinsames Essen mit Freunden? Zelebrieren und genießen Sie es; Geselligkeit ist der Speise beste Würze.

80 Essen Sie nicht im Stehen und Gehen wie einst die Steinzeitmenschen, essen Sie möglichst oft am Tisch mit anderen.

81 Liebe geht durch den Magen; das Candle-Light-Dinner macht das perfekte Rendezvous.

82 Kochshows im Fernsehen sind billige Unterhaltung und Kommerz – kein Ersatz fürs eigene Kochen und gemeinsame Genießen.

 

Der Reformationstag als allgemeiner Feiertag ist ohnehin die Ausnahme. Machen wir uns für heute vielleicht bewusst, dass das perfekte Dinner schnell zum perfiden Dinner werden kann – denn der Genuss, beim Genuss Anderer nur zuzusehen, statt selbst zu genießen, ist doch wie ein halber Hahn, dessen „bessere“ Hälfte eben nicht auf dem eigenen Teller liegt…

„CO2-Konzentration steigt in Rekordtempo  …“ – das ist übrigens eine Schlagzeile, die gerade am Vortag des Reformationstages verbreitet wird.  Als Zeichen gemeinsamer Verantwortung & kollektiver Schuld?

Weil die Politik nämlich keine Verantwortung übernimmt, ökologische Plattformen nur als Feigenblatt für Braunkohlekraftwerke missbraucht, sich trotz Physikkenntnissen an naturgesetzlichen Phänomenen vorbeischlängelt…

 

Zum Wohl der Tiere und der Menschen

Sich mit der „Gier auf Tier“ auseinanderzusetzen, und mit den gesellschaftlichen Tendenzen zu vegetarischer Ernährung bis veganer Lebensweise, ist einereseits „modern“, bewirkt andererseits wenig bei denen, die tatsächlich tierische Produkte verschlingen und im Tier weniger das Mitgeschöpf als den Rohstoff für mancherlei Delikatessen und Alltagsfutter sehen.

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Formel 1, Klimaziele, Ernährungsmedizin

Gummibärchen – sie waren im letzten Artikel Gegenstand diverser Sachfragen (Zucker-Zufuhr, Schweinehaltung, Arbeitsbedingungen in der „dritten Welt“) finden wir sogar in der Formel 1 – hier bei Ferrari und deren Pistensau(?) Sebastian Vettel, dem das Gefühl für seinen Boliden fehlte: „Weich wie ein Gummibärchen.“ Gemeint war wahrscheinlich die Radaufhängung…

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Von Gummibärchen über Kinder- und Jugendarbeit zur globalen Gerechtigkeit

Hans Riegel, Bonn: Der Gründer des Süßwarenkonzerns Haribo ist vielleicht nicht so bekannt wie seine Marke, Gummibärchen sind vielleicht nicht so gesund wie „Fruchtleder„, aber in der Herstellung günstiger, und vor allem: Man kann sie ganzjährig produzieren, und sie sind „länger haltbar“.

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Dampf-Spinatsemmelknödel mit Tofu und süßsaurem Gemüse – #Restezauber

Ein hartes Brot oder altbackene Brötchen – das fällt in jeder Küche mal an, und ist längst kein Abfall.
Um aus altbackenen Brötchen Semmelknödel herzustellen, empfiehlt es sich, sie in Würfel zu schneiden, so lange sie sich noch schneiden lassen, bei Körnerbrötchen mit einer Kantenlänge um die 5 Millimeter, die lassen sich gleich weiterverarbeiten oder in einer luftigen Papiertüte noch zu Ende trocknen und eine Weile lagern.

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Reste-Rezepte, Überproduktion, Überdruss – und der Kampf an drei Fronten

Mit „Jamaica“ könnte unsere Landwirtschaft sich ein wenig verändern – oder auch im Zusammenhang mit globalen Bedingungen, oder, weil die Verbraucher anspruchsvoller werden:

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Das Pyramidenspiel, Zwickmühlen & progressive Alltagspolitik

Mit Pyramiden kennen wir Diätbegabten uns ja aus: Mindestens 10 Modelle von Ernährungspyramiden haben wir schon studiert, zwei- und dreidimensionale, und solche, deren Basis aus kalorienfreien Getränken besteht. Da ist eigentlich alles, was zu sagen ist, bereits gesagt – außer –

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Keine GroKo-Trauer, Einigkeit, rot-grüne Suppe

Wie die Dinge liegen, wären wir ohne Lebensmittel-Industrie schon längst verhungert, abgesehen von den Bauern, Kleingärtnern und Reichen. Aber das System sorgt für uns – nicht mal den Käse müssen wir selbst reiben, die Presse informiert ausführlich, wie geriebener Käse am Verklumpen gehindert wird, und die Lebensmittelwirtschaft twittert über einen Stern-Artikel zu Reibekäse.

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Frische Kommentare

  • Sabrina: Schön, dass du bei der Bilanz dabei bist! Mit Spirulina und Algen zu experimentieren,...
  • ClaudiaBerlin: Mit all meiner fortgeschrittenen Lebenserfahrung kann ich sagen, dass das mit den...
  • Julia: Da hast du recht, was das Fermentieren angeht, bin ich Spätzünderin 😂
  • Ulrike: Nachhaltigkeit und Produkte aus der Umgebung sind wichtig, da bin ich ganz bei dir. Alles...
  • Bine: Lieber Klaus-Peter, ich bin über die Foodblogbilanz2021 auf Deinem Blog gelandet und...

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