Weder Epidemie noch Ruin
Eine Adipositas-Epidemie bei Kindern gibt es nicht, so der Stuttgarter Soziologe. "Weder ist die Krankheit ansteckend, noch so dramatisch wie oft dargestellt wird." Zwar sei die Entwicklung bei Jugendlichen uneinheitlich, bei Schulanfängern stagnieren hingegen in einigen Bundesländern die Anteile Übergewichtiger und Adipöser. Deutschland stehe EU-weit gut da mit acht Prozent Übergewichtigen und drei Prozent Adipösen bei den fünf- bis 17-Jährigen. "Problematisch ist, dass Gewichtsklassen bei Minderjährigen nach verschiedenen Verfahren eingeteilt werden, die teils auf statistische Willkür deuten", betont Zwick.
"Völlig überzogen" sei es, in dicken Kindern den drohenden Ruin der Sozialsysteme zu vermuten, so der Experte. Erst Fettleibigkeit sei mit ernsten Krankheitsrisiken verbunden, während der Zusammenhang bei Übergewicht nur schwach sei. "Zudem verbietet sich ein einseitiger Blick, da an Adipositas viele verdienen, die sich ihrer Entstehung, Erforschung, Diagnose, Therapie und Prävention widmen. Auch sind Adipöse ein eigenes Käufersegment." Gegenteilige Interessen hätten hingegen die Nahrungsindustrie, die Konsolen-, Bildschirm- und Gameshersteller und schließlich die Steuerzahler und Versicherungsträger, die die Rechnung bezahlen. "Finanziell handelt es sich bei Übergewicht und Adipositas gleichsam um ein Nullsummenspiel", so Zwick.
Übertreibung stigmatisiert
Nicht unbehelligt lässt dieser Diskurs allerdings die von Übergewicht Betroffenen, warnt der Forscher. Wie er in Fokusgruppen zeigen konnte, ist das Bild des "gemütlichen, glücklichen Dicken" ein realitätsfernes Klischee. "Je radikaler die Darstellung von Übergewicht, desto stärker der Schlankheitswahn. Dicksein ist auch bei Kindern mega-out und bringt hohen Leidensdruck durch Hänseleien, Stigmatisierung und andere Konflikte, die auf das Körpergewicht zurückgehen." Wünschenswert wäre für den Experten eine ähnliche Entkrampfung, wie sie etwa bei Behinderten durch positiveres Medienimage schon ansatzweise gelungen sei.
Ursprung in der Familie
Adipositas geht primär auf die Überflussgesellschaft und die Auflösung der Familie zurück, argumentiert Zwick. Stark-Essen alleine mache ebenso wenig dick wie der passive Lebensstil. "Gefährlich ist die Koppelung. Kompetente, regelgeleitete und gesunde Ernährung und Freizeit muss die Familie vermitteln, doch ist deren Dynamik oft problematisch. Wenige kaufen, kochen, essen oder verbringen die Freizeit gemeinsam. Viele betroffene Kinder sind sich in Ernährung und Freizeit zudem selbst überlassen." Die oft bemühte Genetik sei weniger wichtig, was Zwick durch das massive Reich-Arm-Gefälle bei Adipositas und die zu rapide Zunahme an Übergewichtigen etwa in den 90er-Jahren begründet.
Bei betroffenen Familien fehlt laut Zwick oftmals auch das Problembewusstsein, weshalb man sie als Adressaten für Prävention kaum erreichen kann. Bildungseinrichtungen müssten häufig erzieherische Aufgaben übernehmen, Gesundheit als Querschnittsaufgabe behandeln und mehr Bewegung und Sport anbieten. Aber auch gesellschaftliche Strukturen sollten verbessert werden. "Das reicht von einfachen Kennzeichnungen, Subventionsstreichungen und Werbeverboten für besonders energiereiche Lebensmittel bis zur Stadtentwicklung, die dem Leitbild ‚Bewegung statt Auto‘ folgt. Ob die Politik derartigen Mut zur Weitsicht beweist, bleibt abzuwarten."
Vielen Dank, das ist ein Fortschritt in Sachen aufklärender Artikel. Ihnen fürs Verlinken und dem Schreiber für die Information 🙂
„Die oft bemühte Genetik sei weniger wichtig, was Zwick durch das massive Reich-Arm-Gefälle bei Adipositas und die zu rapide Zunahme an Übergewichtigen etwa in den 90er-Jahren begründet.“
Hier muss ich jedoch widersprechen.
1. Sind arme Menschen meistens aus der Arbeiterschicht, die durch die strukturellen Wandel der letzten Jahrzehnte zurückgeblieben sind.
2. Sind arme Menschen sehr häufig aus eben dem 1. und dem Grunde Einwanderer, die mehrere Risiken haben und zudem oft noch untersetzten Körperbau haben.
3. Arbeiter sind allgemein kräftiger gebaut. Wenn ich meinen Arzt sehe, frage ich mich wie der seinen eigenen Körper aufrichten kann, so dünn und schmächtig ist der. Wenn ich dagegen die Metzger sehe, alle drei in der Gegend hier, dann fühl ich mich als schmächtig.
4. Armut korreliert mit Streßfaktoren, aus verschiedenen Gründen aber vor allem wegen (zunhemender) Existenzangst. Hinzu kommen Elemente wie Suchtprobleme, die zum Absturz und zur Armut führten, soziale Probleme, familiäre Probleme etc.
5. Krankheit. Der wichtigste Grund gesellschaftlich abzustürzen ist körperliche und seelische Krankheit. Wer arbeitsunfähig wird, hat kaum noch Einfluss auf die eigene Lebenssituation. Hinzu kommt das gerade seelische Leiden mit Übergewicht korrelieren, gleichzeitig körperliche Krankheiten mit Übergewicht gemeinsam auftreten. Schilddrüsenunterfunktion, Diabetes und Allergien.
Einige Krankheiten führen über den Umweg der Medikamente zum Übergewicht. Cortison-Präparate, Blutdruck-Senker, Anti-Depressiva etc.
Es ist also unzulässige Vereinfachung zu behaupten, das Arm Reich Gefälle würde den genetischen Anteil an Übergewicht negieren, genau das Gegenteil ist der Fall bei genauem Hinsehen!
MFG
Den Satz mit der “weniger wichtigen Genetik” verstehe ich so, dass oft mit “Genetik” als Ursache von Adipositas argumentiert wird, wo die sozialen und gesellschaftlichen Gründe offensichtlich sind.
Selbst wenn man von einer “Prädisposition” spricht, kommt die Wirkung nicht ohne auslösende Ursache zustande.
Nun kann man immer noch von einer “genetischen Disposition” sprechen und dies z.B. für die drei Metzger annehmen.
Es kann sich hier aber auch um eine erworbene Struktur der Vorlieben (Formung des Esstriebes) handeln.
Wenn man diese Grundstruktur als “Prädisposition” bezeichnet, handelt es sich um eine sozial bedingte Prädisposition, die von Erfahrungen und bewusst oder unbewusst vermittelten Werten geprägt ist – also nichts, was mit den Genen vermittelt wird.
Aber selbst wenn es ein winziges, seltenes Genom, das die Neigung, Tiere zu töten und zu verarbeiten gäbe (das ist bis dato nicht nachweisbar), würde das nichts über die Entstehung von Adipositas bei Nicht-Metzgern erklären.
Mit den Genen eher wenig zu tun haben dürfte zum Beispiel, ob ich in einer fahrradfreundlichen Stadt lebe oder nicht. Aber von so einer Infrastruktur kann es abhängen, ob ein Großteil der Bevölkerung sich mehr bewegt als der bundesdeutsche Durchschnitt.
Das “Negieren” ist in Ihrem Kommentar nicht eindeutig zu verstehen. M.E. haben Sie doch auch das Überwiegen sozialer Gründe bestätigt? Damit sehe ich dann keinen Widerspruch zur Zirn’schen These.
Wenn ich das jetzt richtig nachvollziehe, dann sehen Sie die soziale Perspektive zu stark. Die Faktoren, die ich aufzählte, sind zwar auch und primär soziale Faktoren, sollen aber auch die körperliche Verfassung des Präkariats unterstreichen und die Ähnlichkeiten innerhalb dieser Gruppe als eine Folge von körperlichen Rahmenbedingungen innerhalb eines bestimmten sozialen Systems!
Also nicht die Genetik ist unwichtig, sondern die spezielle Genetik der Arbeiterklasse und Einwanderer, der großen Gruppe der Abgehängten an sich, entscheidet darüber, wie hoch die Neigung zum Übergewicht ist.
Einfacheres Beispiel: Kräftige Menschen tendieren zu mehr Unterhautfettgewebe.
Es dient als Isolator, um den Organismus vor zuviel Wärmeverlusten durch die massivere zu versorgende Muskulatur zu schützen. Diesen Effekt können Sie bei den allermeisten Kraftsportlern (nicht unbedingt Bodybuildern) sehen.
Hierbei muss der zweite Punkt beachtet werden, das eine Menge Arbeiter auch draussen arbeiten müssen und dadurch den Witterungsbedingungen ausgesetzt sind. Die Wärmeverluste hier sind enorm!
Wer nun aus diesem Zustand ggf. Arbeitslos wird und dann plötzlich der körperlichen Arbeit bzw. Bewegung verlustig geht, der wird sofort eine Menge Speck ansetzen, was er aber baldig verlöre wenn er wieder arbeiten würde. Das hat dabei dann wenig mit dem Essen als mehr damit zu tun, das die Muskulatur überflüssig wird und abgebaut. Was dabei an Energie freigesetzt wird, kann quasi nicht am Essensverzicht eingespart werden!
So liegt hier wieder genau das Problem vor, das allen quasi derselbe Körper angedichtet wird. Die klassischen Körpermodelle, die alle unterschiedliche Körpertypen kennen, werden heute viel zu oft einfach ausgeblendet, zeigen aber gerade in Betrachtung der Korrelationen von Körpertypen, Stoffwechseldifferenzen und Reaktionsdifferenzen auf gleichartige Reize enorme Unterschiede vor allem auch bei der Streßreaktion. Die einen werden dicker die anderen dünner! Genau das wird immer wieder ausgeblendet!
Der springende Punkt:
* „Der Einfluss genetischer Dispositionen auf die Entstehung von Übergewicht und Adipositas gilt zwar unter Fachleuten als unbestritten, welche Gene hierfür eine Rolle spielen, ist jedoch noch weitgehend unklar. Außerdem lässt der starke Anstieg der Adipositasprävalenz in den westlichen Industrienationen nur auf einen geringen genetischen Einfluss schließen, da „bevölkerungsweite genetische Veränderungen nicht in so kurzer Zeit stattfinden“.
Die kapitalistische Industrialisierung mit den psycho-sozialen Folgen für das Individuum IST DIE Ursache; keine imaginäre genetische Veränderung. Ein Denkfehler hier die Einflüsse aus den Untersuchungen auszuklammern bzw. in der Gewichtung zu minimieren. Denn das im Kern die Körpertypenlehre z.B. von Kretschmer oder Sheldon deutlich die Unterschiede hervorhebt, um die es mir geht: körperliche Unterschiede, die in die Psyche hineinwirken und den Stoffwechsel mitbeeinflussen.
Leider ist so ein komplexes Modell nicht so gefragt. Dasselbe kann man in anderen Bereichen wie die veralteten Fetternährungshypothesen beobachten. Die Wirklichkeit ist hochkomplex, der heutige Wissensstand gerade im öffentlichen Breitenbewußtsein sehr reduziert, sehr oft auf Vorurteile und Glauben beschränkt.
Nur was soll man von einer Öffentlichkeit erwarten, wenn schon die vermeintlichen Denker solche Fehler in ihren Überlegungen und Herangehensweisen beim stellen der Fragen einbringen? Reduktion ist nötig um Modelle zu entwickeln, an der falschen Stelle eingebracht, führt sie aber zu falschen Ergebnissen. Da kommen wir dann ins Erkentnisstheoretische und die Wissenschaftler müssen sich fragen lassen, ob die Tests nicht so ausgelegt sind, das sie zu Vätern der eigenen Gedanken und Glaubensansätze werden.
Wer nämlich glaubt, das die Genetik nicht sooo wichtig wäre, der wird auch so forschen. Und genau diesen Punkt meine ich mit meiner Kritik. Denn im Grunde ist dieser Ansatz schon jetzt deutlich verkehrt. Das kann sogar ich Laie darlegen mit Argumenten und Wissen, das zumeist aus Büchern, Zeitschriften und Artikeln stammt, die sehr gut recherchiert sind wie Pollmers, Dr. Franks u.v.a.m. und die ich auch mit meinen eigenen Lebenserfahrungen und Beobachtungen abgleichen konnte.
MFG
[…] Die Gefahr “Adipositas-Epidemie” übrigens ist bloß eine, die wie der Teufel an die Wand gemalt wird: Das erzeugt ängstliche, verunsicherte Leser voller Furcht und Besorgnis um die eigene Gesundheit. Dann werden sie mit hoffnungsspendenden Meldungen versorgt und so von den “News” abhängig gemacht. Saepius opinione quam re laboramus. Öfter leiden wir unter der Einbildung als unter der Realität […]