Soziale Ursachen von Übergewicht und Adipositas

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Wissenschaftler des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart sind den Ursachen des Übergewichts bei Jugendlichen nachgegangen. 
In einer auf fünf Jahre angelegten Studie ermittelten sie die sozialen Ursachen von Adipositas.

Dicke Kinder, so das Ergebnis, sind eine Folge der gesellschaftlichen Modernisierung, wobei Übergewicht maßgeblich durch das “Auseinanderfallen sozialer und kultureller Strukturen” begünstigt wird, kurz gesagt: Die Familien lösen sich auf und erfüllen ihre Funktion nicht mehr.
Die Forscher fordern daher ein radikales Umdenken in der Behandlung des Problems. Statt Kindern und Jugendlichen (meist erfolglos) Verhaltensänderungen aufzuzwingen, sollte den Rahmenbedingungen für passiv-konsumtive Freizeitgestaltung und Überernährung entgegengewirkt werden.
Als zentrale Bedingungen für die Verbreitung von Übergewicht kristallisierte sich dabei ein Zusammenspiel von drei Faktoren heraus:

  • Individuelle Dispositionen und Gewohnheiten
  • Lebensbedingungen einer Überflussgesellschaft, in der energiereiche Lebensmittel jederzeit zur Verfügung stehen aber auch eine Vielzahl technischer Produkte, die die Bewältigung des Alltags ohne große Kraftanstrengung ermöglichen.
  • Ein familiäres Umfeld, das Kinder und Jugendliche nur unzureichend auf diese Lebensbedingungen vorbereitet, Kenntnisse zur Etablierung eines gesunden Lebensstils nur mangelhaft vermittelt und die Kinder häufig sich selbst überlässt.

"Was die Kinder … vor allem brauchen, ist die Fähigkeit, kompetente Entscheidungen zu treffen und diese regelgeleitet – und wenn nötig selbstdiszipliniert – zum Wohle ihrer Gesundheit umzusetzen. Diese Fähigkeiten werden normalerweise im Elternhaus erlernt",

so der Stuttgarter Sozialwissenschaftler Dr. Michael Zwick.

Der Strukturwandel seit den 1970er Jahren habe allerdings zu wachsenden Erziehungsdefiziten geführt, sei es durch auseinander fallende Familien, durch die berufsbedingte Abwesenheit der Eltern oder auch nur durch asynchrone Zeitabläufe der einzelnen Familienmitglieder, mit der Folge, dass Kinder oft sich selbst überlassen sind.

"In den betroffenen Familien isst jeder, salopp gesagt, wann, wo und was er will, und die Freizeitgestaltung folgt dem selben Muster"

Bei vielen Kindern und Jugendlichen genießt die Mediennutzung eine hohe Anziehungskraft; häufig seien Computer und Spielkonsole attraktiver als das Spiel im Freien, wozu aber auch ein wenig kind- und bewegungsgerechtes Umfeld beitragen kann.
Dass Abmagerungskuren bei solchen Verhaltensmustern und in einem Übergewicht fördernden Umfeld wenig Erfolg versprechen und einmal verlorene Pfunde schnell wieder gewonnen sind, liegt auf der Hand. Zudem werden gerade "Problem-Familien" von Appellen und Kampagnen meist gar nicht erreicht, mit der Folge eines geringen Problembewusstseins.

Man sollte hier allerdings auch einmal die Qualität der Kampagnen untersuchen; Übergewichtigkeit kann auch nicht das Schönheitsideal der “Unterschicht” darstellen, und es ist nicht gesagt, dass man hier weniger unter dem Übergewicht leidet als anderenorts. Die Frage “Wie  abnehmen” wird überall gestellt und stets in den Massenmedien überaus verwirrend beantwortet. Das Angebot attraktiver Selbsthilfegruppen fehlt gänzlich.

Da es einfacher ist, Rahmenbedingungen, in welche Handlungen eingebettet sind, zu verändern, als tief verankerte Gewohnheiten, sollten vorrangig solche Maßnahmen Pflicht werden, die die Wahl gesunder Optionen fördern.

Lebensmittelampel

Zusätzlich zu vielen anderen Vorschlägen zur Prävention von Übergewicht, treten die Forscher entschieden für die bis heute umstrittene Ampel-Kennzeichnung besonders fett- oder zuckerhaltiger Lebensmittel ein.
Die Kennzeichnung hat weniger den Effekt, dass Konsumenten diese Kennzeichen nutzen, um ihr Einkaufverhalten zu ändern, sondern vielmehr die indirekte Wirkung, dass es sich Firmen nicht leisten können, viel rote Produkte im Regal zu haben und daher von sich heraus auf gesündere Nahrungsmittel umstellen. Dieser Trend zur Veränderung des Angebots hat sich auch in den Ländern wie Großbritannien gezeigt, in denen die Auszeichnungspflicht nach dem Ampel-Modell vorgeschrieben ist.

Das Wohnumfeld

Ein weiterer Ansatzpunkt sei eine bedarfsgerechte Umgestaltung von Wohnquartieren zugunsten attraktiverer Aktivitäten im Freien, beziehungsweise die bedarfsgerechte Schaffung von wohnortnahen Sport- und Spielstätten mit freiem Eintritt für Kinder und Jugendliche.

Weitere Massnahmen

Besonders dringlich sei ferner die Schaffung von dauerhaften Stellen und Strukturen für die Koordination und Vernetzung der zahlreichen Programme, Projekte und Kampagnen, damit Synergieeffekte entstehen und ihre Effektivität sichergestellt werden können.

Last but not least gilt es, zu überlegen, welche gesellschaftlichen Institutionen geeignet sind, die familialen Erziehungsdefizite auszugleichen.

Weitere Informationen bei
Dr. Michael Zwick, Institut für Sozialwissenschaften/ Abteilung Technik- und Umweltsoziologie, Tel. 0711/685-83972, e-mail zwick@soz.uni-stuttgart.de

URL dieser Pressemitteilung: http://idw-online.de/pages/de/news352798

Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Psychologie, Sportwissenschaft
überregional

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Ein Kommentar zu “Soziale Ursachen von Übergewicht und Adipositas”

  1. […] Stuttgarter Forschungsgruppe, über die hier schon berichtet wurde,  hat jetzt ihre Ergebnisse zu “Übergewicht und Adipositas bei Kindern und […]

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