Molière, Der adipöse Kompromiss, Ricarda Lang und die Medien – Politik
Geschrieben am 17. Juni 2022 von KPBaumgardt
„Rundfunk der DDR 1955“ ist als Ursprungsbezeichnung eines vom WDR gesendeten Hörspiels vermerkt:
Tartuffe – Molières Charakterkomödie über falsche Frömmigkeit
Das hört sich gar nicht „alt“ oder langweilig an, man muss sich nur an den Stil gewöhnen – die Konflikte, die Molière bearbeitet hatte, sind doch aktueller als die „Fälle“ der heutigen Unterhaltungssendungen mit der kurzen Halbwertszeit.
Stellen wir also fest: Es gibt grundlegende Wahrheiten im Leben, die sind so „basal“, dass sie mit „Weisheit“ nichts zu tun haben, nur – wenn wir sie vergessen, ist „Ruck-zuck“ auch das Leben futsch 😉 .
Molière: „Man isst um zu essen und lebt nicht, um zu essen“.
Man kann sich allerdings auch dem Essen verschreiben, doch die wenigen Plätze in den Medien für Gastrokritiker sind längst schon vergeben; stellt man Fragen des Lebensstils und seiner Balance heraus, wird das toleriert, aber nicht goutiert. Die Balance zwischen Gourmet und Gourmand ist bekanntlich kaum zu finden – dieser Hochseilakt braucht mehr Übung als Seilspringen.
Mit uns oder mit unseren Adipösen wird hierzulande so umgegangen, als handle es sich um eingebildete Kranke, die ja „nur die Hälfte zu essen und mehr Sport zu treiben bräuchten“, um alle ihre Probleme zu lösen, falls sie nicht von einem „Willenskraftmangel“ befallen wären, was ja viele zu hoffnungslosen Fällen macht und abstempelt, so dass („unter uns gesagt“) man da auch nichts machen kann und sich echte Diskussionen samt für und wider hinsichtlich der gesuchten Lösungen erübrigen.
Was man so isst, um zu leben sollte von der Jahreszeit abhängen – nur so kann es frisch sein, nicht nur „wie frisch“. Wenn es sich bei den Kartoffeln um Reste vom Vortag handelt, mit „übriger“ Frühlingszwiebel und „schrumpliger Roter Beete“, die unbedingt verwertet werden musste, sei hier die Sparsamkeit in der Küche nur am Rande, als sowieso gepflegte Tugend, erwähnt 😉 .
Warnhinweis: Die vergrößerte Ansicht kann zu verstärktem Speichelfluss führen!
Heute sind die Experten allgegenwärtig, und hochgeschätzt waren sie schon damals 😉 :
Das erfahren wir mit „Molière — Zitate“ als Suchbegriff, zum Beispiel
„Ein Tor, der kein Wort sagt, unterscheidet sich nicht von einem Gelehrten, der schwätzt.“
Jetzt komt es nur noch darauf an, zu unterscheiden, mit wem oder was wir es zu tun haben. Die Expertise der Betroffenen soll auch nicht zu kurz kommen, die können manchmal erklären, wie „es“ dazu kam – ungefähr so:
„Wir hatten ja eigentlich nix. Meine alleinerziehende Mutter hat uns gerade so durchgebracht, mit einem Job als Bäckereiverkäuferin; süße Stückchen und Kuchen vom Vortag durfte sie reichlich mitbringen, was so übrigblieb; und damals habe ich diese Vorliebe für Süßes entwickelt, was ja auch nicht geschadet hatte, denn als Mitglied der Fußballjugend habe ich genug Kalorien verbrannt.
Bis dann die Sache mit dem Bänderriss passiert ist und ich auf dem Fußballfeld ausgeschieden bin.Dann hat sich das so entwickelt“.
Geschwätzige Gelehrte hinterfragen hier nichts, bedanken sich für den Beitrag, sorgen für unterhaltsame Abwechslung, wechseln schwatzhaft das Thema. Reiner Calmund hatte uns bereits an einem „geführten“ Abnehmmarathon teilhaben lassen, stellte kürzlich den Erfolg seiner Magen-OP in einer Fernsehshow vor: Alles im üblichen Rahmen, eingerahmt von der reinen Vernunft?
Es wäre jedoch keinesfalls töricht, wenn auch nicht üblich, hier festzustellen, dass dieses „sich die Realität zurechtbiegen“, tröstliche Erklärungen finden, „rationalisieren“ ein häufiger Mechanismus ist.
Im Kuchenessen hatte sich von Anfang an dargestellt: Sich die Nahrung, die die Mutter zu bieten hatte und anbot, anzunehmen, sich einzuverleiben und bei der süßen Speise zu bleiben, auch als diese nicht mehr den veränderten Bedürfnissen, genauer Bedingungen entsprach.
Das „bei einer Gewohnheit verharren, selbst wenn sie keinen Sinn mehr hat“ musste nun nur noch als akzeptabel und nachvollziehbar präsentiert werden. Lobenswerte Leistungen, egal auf welchem Gebiet, helfen, über das „Fehlverhalten“ hinwegzusehen
Das selbstvergessene Essen, wie hier in einer Illustration zum Märchen „Die kluge Else“, als sinnlos zu bezeichnen, verwehrt das Verständnis des Verhaltens. Beachte die Integration der Flasche in diesem Zusammenhang!
Das Erscheinungsbild von Männern, Frauen und Kindern gilt inzwischen ja derart als von der „herrschenden Eigenverantwortung“ abhängig, dass den Adipösen eine regelrechte Adipositas-Scham angehängt wird; damit wird Molières
„Ich lebe von guter Suppe und nicht von schöner Rede“
gewissermaßen verdreht zu einem „Ich lebe von schöner Rede und nicht von guter Suppe“, auch und gerade im Zuge der Auseinandersetzung mit dem fatalen Fat-Talk, und so klärt auch unser Fernsehprogramm über die feinen Differenzen auf:
Diffamiert mit Bodyshaming
Hetze und Häme, wie wir sie in den „socal media“ leider auch finden, vernebeln den Angreifern, die sich in Rage schreiben, den Geist – das ist dann ein tröger Masseneinheitsbrei, der sich ergießt, wenn die Dämme der Zurückhaltung gebrochen, oder die Sicherungen durchgebrannt sind.
Wie sich das für die Be/Getroffenen anfühlt, wollte das ZDF dokumentieren, und eine Szene mit „Fat-Shaming“ – Beschämung wegen eines Körpergewichts – habe ich mal hervorgehoben:
Was ich nicht so gut finde: Dass man Ricarda Lang solche Schmäh-mails auch noch selbst vorlesen ließ. Zu Dingen wie
„Im Mittelalter hätte man mit … [wüste Beschimpfung] kurzen Prozess gemacht“
müsste man doch zumindest durch die Verwendung der indirekten Rede ein wenig Distanz herstellen!?
Man müsste hier eigentlich die Motivation der je beteiligten „Kämpfer“ unterscheiden – der eine wollte vielleicht auch „einfach mal etwas obrigkeitskritisches sagen“, der andere seiner Wut auf etwas ungenanntes Luft machen, der nächste wollte Lügen entlarven, man könne doch nicht Gleichheit und Gerechtigkeit behaupten und gleichzeitig eine gewisse Clique privilegieren, und so weiter. Auch Bemerkungen wie „Ricarda Wer? Huch?“ hat es tatsächlich gegeben.
In der Summe erinnert das „Schlachtgegröhle“ an alttestamentarische Steinigungen – etwas völlig unzeitgemäßes und seit 2000 Jahren strengstens verboten. Man muss den verbalen Exzessen – wie auch immer – die Spitze nehmen, ohnehin haben die, die da schimpfen, nicht das Sagen.
Dass der häusliche Pflanzenanbau – und sei es auf der Fensterbank, desto mehr auf Balkon und im Garten (oder auf dem umgewidmeten Autoparkplatz) in sämtlichen Diskussionen über Welternährung völlig ausgeklammert wird, deutet auf einen mangelhaften emotionalen Zugang der „Eliten“, oder deren fehlenden „grünen Daumen“ hin.
Die oberflächliche Analyse ergibt unter Anderem:
Obwohl wir Begriffe wie »Fat Shaming« oder »Body Positivity« längst kennen, wird das Thema selbst von Feminist*innen kläglich vernachlässigt. Der implizite Vorwurf, seinen Körper könne man ja schließlich ändern und abnehmen, wenn man nur wolle, scheint uns derart schlüssig, dass Betroffene letztlich allein bleiben.
Das wäre also das „Du musst nur wollen, dann kannst du auch, und kannst du nicht, dann willst du nicht“ aus der schwarzen Pädagogik auf der einen Seite, und ein „Eigentlich bin ich doch perfekt und unschlagbar, wie ich bin, und ich will so bleiben wie ich bin, denn das darf ich, wenn ich will“ auf der anderen. Das alleine-Bleiben ergibt sich aus der Ignoranz des Umfelds, das deutliche Probleme nicht wahrzunehmen scheint und nicht qualifiziert ansprechen kann.
„Unser Kampf“ gegen Adiositas enthält also viele Strategien für den Kampf gegen Windmühlenflügel wie auch gegen unsichtbare, unbekannte Gegner, gegen heimliche Verlockungen, unbewusste „Selbstsabotagemotivationen“ oder unheimliche Familienregeln. Er erfordert die Rundum-Resistenz gegenüber genüsslichen Verführungen, ungeahnte Mengen an Frustrationstoleranz und Bescheidenheit bei der Wahl des Ziels, wobei wir einem unbedingten „Entweder-Oder“ den Vorzug geben, gegenüber einem „Sowohl – als auch“ bei Zu- und abnehmen, doch wen interessiert das noch?
„Fleisch oder Nicht Fleisch, das ist die Frage – was auf den Grill kommt, erhitzt die Gemüter“.
Es wird sich wohl um Lebens-Mittel oder um Nahrungs-Mittel handeln und von „Natur“ sich immer weiter entfernen; dabei ist das Grillen als solches, als ineffiziente, energiefressende Zubereitungsart noch nicht in Frage gestellt.
Zwei Ausführungen eines „Sonnenofens„, hier auf dem Roemer in Frankfurt am Main, auch eine Nummer größer zu betrachten.
Man könnte meinen, die „Grüne“ Ökopartei sollte dem Räucherunwesen im Garten ein Ende bereiten und der Umwelt tonnenweise Co2-Ausgasungen von Grillkohle usw. ersparen, und dann passiert nichts.
Keine Verhaltensänderung, keine Grillrevolution, keine Grillreform, als „Kompromiss“ vielleicht die alte Formel „Fleisch – nur vom Metzger meines Vertrauens“, eigentlich also auch überhaupt kein Bewusstsein darüber, welche umfangreichen Änderungen des Lebensstils im Detail massenhaft anstehen.
Und „natürlich“ hat die Grüne Partei auch den Veggie-Day nicht (mehr?) offziell im Programm. Das war ja auch alles nur symbolisch und nicht als Auftakt einer mehrheitlichen Verhaltensänderung gedacht, also hat man sich auch keinen Kopf gemacht, und aktuell sind Flüssiggas und Tierpanzer diskussionsbestimmender als Ernährungsgesundheit und echte Selbstbestimmung der Konsumenten, wobei gerade Politiker hochgradige Konsumenten sind und kein Vorbild in Sachen „Minimalismus“ oder Nachhaltigkeit.
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