Das ungesunde Gewicht als Stigma oder Trauma
Geschrieben am 24. Juli 2012 von KPBaumgardt
Der Begriff Stigma (altgriechisch στíγμα, Mehrzahl Stigmata) bedeutet wörtlich Stich-, Punkt-, Wund- oder Brandmal; er steht im Allgemeinen für
- ein auffälliges, mitunter negativ bewertetes Merkmal, siehe Mal bzw. Makel (Schandfleck)
- eine pathologisch typische körperliche Erscheinung oder Ausprägung (z. B. Leberhautzeichen) (Quelle)
Damit dürfte klar sein, dass Übergewichtige gewissermaßen “stigmatisiert” sind.
Es gibt aber auch eine Stigmatisierung, die einfach durch die Wortwahl Anderer geschieht: Eine Studie der Yale-Universität untersuchte, welche Bezeichnung für ihre übergewichtigen Kinder deren Eltern am ehesten genehm ist:
The researchers surveyed American parents with children ages 2-18 years, asking their opinions about 10 common terms used to describe excess body weight in children. These terms included "extremely obese," "high BMI," "weight problem," "unhealthy weight," "weight," "heavy," "obese," "overweight," "chubby," and "fat." Parents were asked if they considered these terms desirable, stigmatizing, blaming or motivational to lose weight.
The study found that parents perceived the terms "weight" and "unhealthy weight" to be most desirable, and "unhealthy weight" and "weight problem" as the most motivating to lose weight. In contrast, the terms "fat," "obese," and "extremely obese" were consistently rated as the most undesirable, stigmatizing, blaming, and least motivating. (Quelle)
Den Eltern war es am liebsten, wenn der Arzt einfach vom Gewicht, allenfalls vom “ungesunden Gewicht” spricht, Bezeichnungen wir “fett” oder “krankhaft übergewichtig” werden als Stigmatisierung, Beschämung und wenig motivierend empfunden.
Von der richtigen Bezeichnung hängt das Ansehen, das man genießt, oder auch nicht, ab.
Gleichzeitig hängt das Ansehen von den Vorurteilen Anderer ab: Wer erfolgreich abnimmt, steigt (vorübergehend???) im Ansehen Anderer, aber nur, wenn die glauben, dass das Abnehmen mit Mühe verbunden war. Das stereotype “faul und willensschwach” ist scheinbar nicht auszurotten. (Quelle)
Damit deutet sich an, dass Übergewichtige unter Umständen permanent stigmatisiert werden. Der psychologische Mechanismus der “Identifikation mit dem Aggressor” kann dazu beitragen, dass man die (befürchtete) Fremdwahrnehmung übernimmt; Jeder hat eine Beziehung zu sich und seinem Spiegelbild, in der das “Du bist ok” aber auch gefährdet sein kann, und das Stigma (das man sich aber auch vielleicht nur einbildet) kann zum Trauma werden.
Nach einer erfolgreichen Diät unternehmen ehemals Übergewichtige viel häufiger einen Selbstmordversuch als Menschen, die entweder schon immer normalgewichtig waren oder die noch immer übergewichtig sind. Das berichtet die "Apotheken Umschau" unter Berufung auf eine Studie der Yale-Universität (USA). Auch Ängste und Depressionen kommen demnach bei Menschen nach einer erfolgreichen Diät öfter vor. Die Wissenschaftler führen dies unter anderem darauf zurück, dass das Trauma des Übergewichts weiterwirkt: Eine Veränderung des Selbstbildes benötige weit mehr Zeit als eine Diät. (Quelle)
Diäten machen nicht automatisch glücklich, weil die negativen Stereotypien, die seit der Kindheit aufgebaut und verinnerlicht worden sind, fortbestehen. Die Vorurteile – auch sich selbst gegenüber – klingen nach, haben einen Nachhall, verschwunden nicht einfach so, wie vielleicht die Pfunde das tun.
Übergewichtige sind offenbar stärker depressions- und angstgefährdet:
the likelihood of any anxiety disorder and any depressive disorder for the formerly overweight group was significantly greater than for the consistently normal-weight group, and not significantly different from the consistently overweight group. Further, the formerly overweight group was significantly more likely to attempt suicide than the other groups. (Quelle)
- Psychological distress in formerly overweight individuals deserves the attention of researchers and clinicians. (Quelle)
Wer abnehmen will, erhofft sich mehr vom Leben – wer abgenommen hat, hat mehr Stress.
Der Zusammenhang von Depression und Übergewicht ist weiterhin einigermaßen rätselhaft. Schon vor längerem wurde hier eine Studie vorgestellt:
Adipöse, die eine Diät machten, seien depressiv geworden und hätten wieder zugenommen, bis zum Ausgangsgewicht, und dabei habe sich auch die Depression wieder gelegt.
Insofern ist die übliche Erklärung des Jo-Jo-Effekts, der Körper schraube den Grundumsatz nach unten, gewöhne sich daran, die (verminderte) Nahrung besser auszunutzen, mehr oder weniger hinfällig, genauer: Nur die eine Seite der Medaille.
“Weniger Essen und mehr bewegen” (“Müsst Ihr Euch, sonst wird das nichts”) – diese stereotypen Ratschläge setzen voraus, dass man funktioniert wie ein Maschinchen und nicht wie ein Mensch.
Es könnte ja auch sein, dass man beim Abnehmen das (unbewusste) Trauma das beim Zunehmen, gegen das man sich nicht wehren konnte, wieder aktualisiert wird. Aber wer wollte solche Zusammenhänge erforschen, wo gibt es die Forschungsaufträge, wer sollte sie erteilen, selbst wenn die Frage des Übergewichts-Traumas (oder, gelinder ausgedrückt, Dramas) noch so wichtig sein sollte?
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Interessanter Artikel.
Ich kann mir vorstellen, dass die höhere Selbstmordrate damit zu tun hat, dass Übergewichtige ihr Gewicht als Grund für ihr unglückliches Leben sehen und glauben, „wenn ich erstmal abnehme, dann wird alles anders“. dann nehmen sie ab und stellen fest, dass sich gar nicht so viel verändert hat und sind natürlich bitter enttäuscht. Die Bezeichnung ungesundes Gewicht finde ich auch anmaßend, wann fängt es denn an, ungesund zu sein, welche Belege gibt es dafür? Auch von Person zu Person ist es unterschiedlich, man kann also nicht generalisieren, dass so und so viel Gewicht ungesund für jemanden ist.