Depressionen – Grundkenntnisse
Geschrieben am 16. November 2009 von KPBaumgardt
Journalisten haben es nicht leicht. Ständig “irgendwelche” schlechte Nachrichten, Hiobsbotschaften, Unglücke, Unwetter und dann noch dieser Suizid. Schwierig, da etwas über die Hintergründe zu schreiben – erkläre mal einer der Leserschaft, was eine Depression ist.
Das ist schon mit Arbeit verbunden. Insofern hat es sich angeboten, dazu “irgendwelche” Therapeuten oder Psychologen zu interviewen – hat einer ein Buch, populärwissenschaftlich vielleicht noch – zu bieten, kann er das gleich bewerben. Fertig.
Alternativ hätte man auch mal in einen Klassiker der Tiefenpsychologie schauen können. Immer wieder empfehlenswert: Fritz Riemann, Grundformen der AngstFritz Riemann, Grundformen der Angst.
Sicher, vielleicht ist das letztlich doch zu komplex. Was könnte da ein Journalist erarbeiten? Machen wir doch einfach den Test, und entwerfen auf die Schnelle eine Rohfassung für einen Artikel: “Depressionen”.
In einem Forum habe ich einen Text gefunden, der für das Forum irgendwie zu “glatt” war. Der Text war geklaut: Es handelt sich um eine Rezension bei Amazon:
Die depressive Persönlichkeit
Dieser Personenkreis hat Angst ein eigenständiges Ich zu werden. Den Depressiven quält die trennende Kluft zwischen Ich und Du.
Das müsste man allerdings noch erläutern: Es mag zwar manchen Depressiven um eine “Verschmelzung”, die nicht möglich ist, gehen, aber sicher nicht mit Jedermann.
Der Angst gegenüber wäre zum Ausgleich etwas mehr Mut zu mobilisieren…
Alleingelassenwerden und Verlassenwerden kann ihn in tiefe Depression und Verzweiflung stürzen.
Diese Verzweiflung hängt meist mit frühen Traumata (“Verletzungen”) zusammen – man müsste doch auf Fallbeispiele verweisen, um verständlich zu machen, was ein frühes Trennungstrauma an Folgen haben kann.
Um sich vor Verlustängsten zu schützen, müssen diese Personen lernen viel Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu entwickeln.
Das ist die Konsequenz. Dazu gehört auch, entsprechende Strukturen aufzubauen, denn merkwürdigerweise wiederholen die Traumata sich unter Umständen – “gesetzmäßig” möchte man das fast nennen.
Distanz bedeutet für den Depressiven Bedrohung. Um anderen uneingeschränkt nahe sein zu können unterdrücken diese Menschen gerne Kritik und Zweifel am Nächsten.
Das ist die “Angst vor Liebesverlust”. Männer glauben ja, so etwas gar nicht äußern zu dürfen. Es gibt Frauen, die diese Angst überkompensieren, indem sie selbst ihre Liebe entziehen.
Es gibt auch Menschen, denen gegenüber es sich objektiv empfiehlt, mit Kritik zurückhaltend zu sein.
Ihr Persönlichkeitsbild weist überwertig Tugenden, wie etwa Bescheidenheit, Überangepasstheit, Unterordnung bis zur Selbstaufgabe, im Extremen masochistisches Hörigkeitsverhalten auf.
Das müsste man noch mal überprüfen, ob das so bei Riemann steht. Überangepasstheit ist ja keine Tugend; Duckmäusertum und mangelnder Widerstand hat uns – als Volk – schon schlimme Abschnitte in der Geschichte beschert.
Und ein “masochistisches Hörigkeitsverhalten” wäre nur die eine Seite einer “Medaille”. Wer spielt das den anderen Part?
Für sich selbst fordern diese Personen nichts.
Das liegt vielleicht an der Verschmelzungssehnsucht: Das “Wir” und auch das “Du” ist wichtiger – und das wird auch von anderer Seite (bösartig) ausgenutzt. Daher kommen die Vampir-Mythen 😉
Riemann lässt den Leser wissen, dass es kennzeichnend für Depressive ist, dass sie schwer etwas merken können, schnell vergessen, oft Lernschwierigkeiten haben und nicht selten teilnahmslos und müde erscheinen.
Wichtiger Hinweis für Pädagogen?
Aggression bei Depressiven äußert sich in Jammern, Klagen und Lamentieren.
Nun ja. So “plump” kann Riemann das nicht gesagt haben, eigentlich. Aber sie sind kaum aggressiv, sondern defensiv – gern auch im Dienste der Gruppe. Siehe Enke.
Aggression und Angst vor Liebesverlust führen oft zu Selbsthass und zur bewussten und unbewussten Selbstbestrafung und Selbstzerstörung. Auch hier macht Riemann das Krankheitsbild an Beispielen deutlich.
Die Beispiele sind zum Teil schon sehr heftig – “triggernd” heißt das heute. Das kann man gar nicht so publizieren – oder doch? Und die Krankheitsbilder verschieben sich ja mit der Zeit – von Anorexie steht dort noch gar nichts…l
Und woher neue Beispiele nehmen?
Depressive versetzen sich in die Situation des anderen. Sie identifizieren sich mit ihm soweit, dass sie den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen darüber weitgehend vergessen.
Tja – ist das so? Ist empathisches Mitfühlen depressiv? Und wer ist bereit, mit dem Depressiven mitzufühlen, der doch sogar – siehe oben – noch masochistische Anteile hat? Zudem kann – vielleicht sollte man das wissen – Masochismus als Suche nach Empathie verstanden werden.
Da sie zu wenig Eigenimpulse und Eigenwünsche haben, die sie den Wünschen anderer entgegensetzen können, unterliegen sie den Impulsen und Wünschen anderer.
Ein netter Satz, der jeden Depressiven mit einem Funken Eigensinn in heilsame Rage versetzen müsste 😉
Immer sind sie gewohnt die Erwartungen anderer zu erfüllen. Wenn ein solcher Mensch sich für alles verantwortlich fühlt, geschieht dies nicht aus Größenwahn, sondern aus fehlender Ich-Stärke, die ihn mehr den anderen leben lässt als sich selbst. Dies kann bis zur völligen mentalen Selbstaufgabe führen.
So weit also diese Rezension. Das scheint ja auf den ersten Blick eine gute Zusammenfassung zu sein, andererseits sehen wir aber auch, besonders im letzten Abschnitt, dass hier mehr beschrieben als erklärt wird.
Und was fehlt wieder einmal?
Bei Riemann gibt es ein ganzes Kapitel
Der depressive Mensch und die Liebe
Liebe, Liebenwollen und Geliebtwerdenwollen ist dem depressiven Menschen das Wichtigste im Leben. Hier kann er seine besten Seiten entwickeln… (S.66)
Wenn es ihm so wichtig ist, hat er vielleicht auch viel Liebe? Viel zu geben – aber das ist auch nicht immer frei von (gesellschaftlich, kulturell bedingten) Konflikten. Schön, dass wir das hier nicht weiter erläutern müssen – wer kennt diese Konflikte nicht, und sei es aus Romanen 😉
Wobei: Eigentlich wäre hier ja auch eine Abschweifung möglich: Früher einmal gab es für diese “schwierigen Verhältnisse”, die Liebe eines Mannes zu zwei Frauen, einer Frau zu zwei Männern ja sogar pädagogische Ansätze, Lösungsmöglichkeiten für die konflikthaften Bereiche solcher Liebschaften zu finden.
Streng gesittet und moralisch einwandfrei ging es da auf die Selbsterkenntnis zu und die Einhaltung gewisser Regeln, die auf Apoll zurückgeführt wurden.
Und niemand musste seine Gefühle verleugnen, denn es war ja Amor mit seinen Pfeilen “schuld”. Depressiv zu sein ist dann – wegen der Schüchternheit – allerdings ärgerlich.
Eine … Aufforderung zur Ergänzung kann … in der Partnerwahl liegen, da man sich oft vom Gegentyp stark angezogen, ja fasziniert fühlt, weil man unbewusst ahnt, dass man von ihm das lernen kann, was man selbst nicht zu leben wagt – die Chance zumindest ist darin enthalten.
Ein allgemein bekanntes Gesetz; nun ja, auch die Risiken der Partnerwahl gibt es, und die Nebenwirkungen…
Die Eigenständigkeit und die Selbstachtung sind die Voraussetzungen, um die Achtung seines Partners nicht zu verlieren.
Zum Schluss noch: Es gibt bei der depressiven Persönlichkeitsstruktur
eine Linie von Menschen mit durchaus noch völlig gesund zu nennenden Einschlägen über leichtere bis zu den schweren und schwersten depressiven Persönlichkeiten; wir können sie folgendermaßen skizzieren:
- Kontemplation, Beschaulichkeit
- stille Introvertierte
- Bescheidenheit, Schüchternheit
- Gehemmtheit im Fordern und sich Behaupten
- Bequemlichkeit, rezeptive Passivität
- passive Erwartungshaltungen (Schlaraffenerwartungen vom Leben)
- Hoffnungslosigkeit
- Depression
- Melancholie
Nicht selten steht am Ende dieser Linie der Selbstmord oder die völlige Apathie …
So kann man keinen Artikel enden lassen –
“Vergiss Dein Ich, Dich selbst verliere nie”
(Herder)
war dem Kapitel vorangestellt, und hier muss nun das Zitat den Schluss darstellen.
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