Mogeleien mit Mälzer – ein „ARD-Lebensmittel-Check“
Geschrieben am 17. Dezember 2017 von KPBaumgardt
Nehmen wir mal an, Du hättest neulich erfahren, dass Glyhosat, das Vernichtungsmittel für alle natürlichen Pflanzen, den Mutterboden auch durchs Killen von Bodenbakterien verändert, die Herausbildung von Antibiotikaresistenzen fördert, dass die Wirkung dieses Mittels mit der von DDT vergleichbar ist – man stirbt nicht sofort, aber die langfristigen Schädigungen….
Du bist ein guter Mensch! Willst da einfach nicht mehr mitmachen, wenn der Landwirtschaftsminister nicht macht, was ihm die Umweltministerin (hat die eigentlich einen relevanten Etat?) vorschreiben möchte, und die Risikobewertungsstelle für ihre Risikobewertung Herstellerangaben kopiert, glaubst nicht an den Wissenszuwachs durch „copy & paste“, willst weder Glyphosphat noch Nitrat im Grund- und Trinkwasser, willst kein Bienen-, und überhaupt kein Insektensterben, bist auch im Bilde über die versteckten Folgekosten der aktuellen Nahrungsmittelerzeugung…
Also gut – Du bist ja ein mündiger Bürger, lebst in einer Demokratie, die in einem Sozialstaat eingebettet ist, und kannst nicht nur mit dem Stimmzettel, sondern auch beim Einkaufen abstimmen, hast die Wahl zwischen „Bio“ und „konventionell“.
Bio-Check: Bio-Brot mit Bio-Gouda und Bio-Ruccola sowie Bio-Brot mit Bio-Frischkäse
Dank „Bio-Wahlmöglichkeit“ sind nicht mehr die chemische Industrie und „der Agrarkomplex“ verantwortlich, sondern Du hast die Verantwortung für Tier- und Pflanzenwohl und -Weh, oder den schwarzen Peter.
Bist Du nicht ganz so mündig, bringen unsere Medien Dich auf den rechten Kurs. Deren Zaubermittel heißt „Infotainment“.
Da gibt es Hofberichterstatter, Hofnarren, Maitressen, outgesourcte Hausphilosophen, Experten für den nahen und fernen Osten, Westen, Süden, Norden und auch für Tiefsee, Hochgebirge und Weltall.
Einige der Unterhaltungskünstler haben sich auf Traum- und Vollzeittouristik, andere auf spezielle und blödsinnige Quizfragen, viele aufs Kochen, Braten und Grillen spezialisiert – die können mit Blick in die Kamera Interviews führend und dabei, ohne hinzuschauen, eine Zwiebel fein würfeln.
Für den kritischen Blick auf die Nahrungsmittelindustrie ist Tim Mälzer zuständig, weniger für Gifte in der Landwirtschaft. Seine Lösung heißt jedenfalls
Bio.
Ich habe das nicht „live“ gesehen, sondern nur darüber gelesen:
„Ich kann es mir leisten, Biolebensmittel zu kaufen“, sagt Mälzer. „Aber wie ist das, wenn man mit wenig Geld auskommen muss?“ Um das herauszufinden, fährt der TV-Star in einen Ort „nördlich von Hamburg“. Dort wohnt Familie I. in einem stilvoll eingerichteten Bauernhaus mit riesigem Wohnzimmer. An der Wand hängt ein moderner Flatscreen-Fernseher, den Esstisch schmückt eine Obstschale. Hier ist man offenkundig nah dran an der sozialen Realität durchschnittlicher Arbeitslosengeld-II-Empfänger.
Der Kunstkoch als Illusionist
Mit bloßen Händen eine Portion Maccaroni herstellen 😉 , oder mit 20 Euro pro Tag eine fünfköpfige Familie biologisch-vollwertig bekochen – alles kein Problem, so wird uns gezeigt.
Wenn die Kamera im entscheidenden Moment nicht hinsieht, fällt die Täuschung leicht:
Die Zauberformel „Ich habe da mal etwas vorbereitet“ gehört zum Fernseh-Kochen wie die Fernbedienung zum Gerät. Vorbereitet war Tim Mälzers schlagender Beweis, dass „Bio“ auch am Existenzminimum restlos möglich ist, vorbereitet war sein Wochen-Ernährungsplan mit hohem Anteil an Hülsenfrüchten, Kartoffelauflauf mit erkennbarem Hack, Milchreis und Hühnerfrikassee mit 100 Gramm Bruchspargel, für 69 Cent.
„Bio, aber günstig“ hieß die Lebensmittel-Check-Folge, in der der Kochkünstler bis auf den Cent genau die Kosten vorrechnet und die Kamera das Restgeld dokumentiert. Wie jeder gute Illusionist lenkt Tim ab, wo gemogelt wird, bringt durcheinander, was auf eine Reihe gehört:
Schließlich schaut das Publikum zur Unterhaltung, nicht, um kritische Fragen zu stellen. Also finden wir auf der Einkaufsliste den Posten „Müsli“, während im Film nur Brot gegessen wird, und wundersamerweise reicht ein Bio-Frischkäse-Aufstrich („Frischkäse: 1,59 €“ – billiger geht das mit Kefir-Quark, selbstgemacht) bei Bio-Brot für mehr als 50 Portionen, auch der Butterverbrauch ist cholesterinfreundlich-homöopatisch, dazu noch in Weidemilch(??)qualität, von glücklichen Kühen, die nur noch darüber traurig sind, dass Tim so wenig ihrer Milch ordert.
Fürs Müsli hätte man – wenn es nicht mit Wasser angerührt wird – noch Yoghurt oder Milch gebraucht, auch zum Kaffee mögen Viele etwas Milch, etwas mehr bei Milchkaffeefreunden, und der Kaffee ist selbst in Bio-Qualität nicht kostenlos.
Teilt sich die fünfköpfige Familie täglich einen Bio-Apfel, wird der Etat noch mal mit 4,83 Euro belastet, und wehe, auch nur eines eines der Kids besteht auf der gewohnten Portion Chips: Das wird teuer, oder ein Elternteil muss in der Küche ganz dünne Kartoffelscheiben bearbeiten.
Diese Kinder mit ihren Ansprüchen erinnern die Erwachsenen dann auch wieder an ihre Gewohnheiten – da käme dann Bio-Bier oder Bio-Wein in Frage, in Maßen, aber der Etat ist schon erschöpft.
Für den Weihnachtsbraten, Stollen und Plätzchen müsste man die Kinder zum Betteln schicken, oder es gibt, was den Braten betrifft:
Dicker Hund.
Den dicken Hund (also nicht den Dackel im Schlafrock) hat Tim bereits in die Sendung eingeschmuggelt, wenn er ihn auch in einer dunklen Ecke versteckt halten wollte.
Gefunden hat das Fabeltier ein aufmerksamer Leser, vermerkt ist in den Kommentaren zur Sendung:
Fünf Gerichte hat der Starkoch vorgekocht – Bio versteht sich – ausreichend für fünf Personen.
Montag Mittag gibt es: Fischauflauf,
als Nachspeise Milchreis, mehr [Nachtisch] ist für die Woche nicht drin.Dienstag Mittag: Linsensuppe
Mittwoch Mittag: Hühnerfrikassee
Donnerstag Mittag: Kartoffelauflauf mit Hack
Freitag Mittag: Chili con Carne
Samstag Mittag:?
Sonntag Mittag: ?
Es geht voran, oder auch: Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.
Das Mälzer-Konzept des Wochenendfastens 😉 ist so diskret, dass der Magen ganz ruhig bleibt, vielleicht nichts davon mitbekommt. Nur das Knurren des dicken Hundes ist zu hören, nur der Verstand versteht, dass man bei einem Taschenspieler wenigstens weiß, worauf man sich einlässt und will nicht glauben, dass die Mediengestalt „Tim, der Fern-Seh-Koch“ weniger Freund ist als die Comicfigur aus „Tim und Struppi“. Beide Figuren sind eine kreative Leistung, eine Erfindung – wobei die eine sich selbst erfunden haben mag 😉 .
Faktisch rührt der Mälzer-Tim mit diesen Sendungen die Werbetrommel für sein Hamburger Restaurant, bei „Kauf-ne-Kuh„, einem Rindfleischversand, der die Herkunft der Schlachttiere offenlegt, ist der erste Satz auf der Homepage:
Durch den Ansturm seit dem ARD Beitrag mit Tim Mälzer sind unsere Pakete ausverkauft!
Nun sollte Mälzer nicht so tun, als hätte er Einkaufskooperationen und Direktvermarktung erfunden, wenn er auf diese hinweist.
Die Behauptung, dass „Bio“ allgemein leistbar ist, stellt eine Veräppelung des Publikums und eine Verhöhnung der monetär Unterversorgten dar.
Mit deren Sorgen hat der Klasse-Koch sich nicht befasst, viel mehr als „Bohneneintopf“ oder „Spätzle mit Spitzkohl“ hat er nicht anzubieten. Sein Scheinbeweis kommt mit wenigen, ausgesuchten Fakten aus, seine Beweisführung unterschlägt zwei von sieben Tagen, seine Lösungsvorschläge sind, soweit sie die Fleisch-Paketlieferung betreffen, kontraproduktiv; wenn das Netz an erkennbar besseren, erschwinglichen und vertrauenswürdigen Angeboten zu weitmaschig ist, gilt es, hier nachzuhelfen.
Mälzer setzt der Beispielfamilie zwei Gläser Marmelade auf den Speisenplan – das ist alles an Obst, in einer Woche. Eine wirklich bedürftige Familie würde damit langfristig fehlernährt und krank enden.
Eine echte Auseinandersetzung mit den Fakten sollte „radikal“ zu zusätzlichem „aktiven“ Einkommen führen, könnte „Food-Stamps für Alle“ erwägen, dürfte nicht bei „alternativen Fakten“, Lügen und ungelegten Eiern stehenbleiben, sondern müsste Alternativen eröffnen.
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Guter Rant! Vor allem die Idee, die Zielgruppe des Textes ganz klar zu konkretisieren – VIEL besser als Triggerwarnungen, sollte als Methode der Weltverbesserung in die Geschichte eingehen!
ABER: Die Kritik unterschätzt das Publikum – wie es Privilegierte und Intellektuelle immer schon gerne tun (mir ist die Problematik beider Kriterien bewusst!). Ich hab die Sendung gesehen (als lange schon prerkär und ganz zufriedene Selbstständige) und mir war klar, dass HArtzer nicht auf die Ressourcen zurück greifen können wie diese Familie, Aber der Aspekt des „Auskommens mit Hartz4“ war auch nicht der Tenor der Sendung, Sondern ein sehr sinnvoller: wie man mit wenig Geld besser essen kann – etwas davon hab ich bereits umgesetzt.
Insonfern: Die ganz große Skandalisierung ist hier nicht angebracht!
Von „Restaurant“ war hier auch mal die Rede, von einem in Hamburg, für das Mälzer schleichwirbt, „Rant“ kenne ich nicht.
„Weltverbesserung“ wird heute gern mal schlechtgemacht, ich weiß icht, warum Du die ansprichst.
„Die Kritik“ sollte schließlich helfen, uns von Vorurteilen zu befreien, zielte darauf ab, das einschläfernde Genuschel des TV-Stars als solches und als dicken Hund, den er sich zu Weihnachten in die Röhre schieben möge, herauszuarbeiten.
Insofern ist Deine Kritik – „Skandalisierung“ – voll daneben.