Ernährung – Verhalten und Verhältnisse, Hedonismusschulung
Geschrieben am 17. Mai 2018 von KPBaumgardt
Deutschlands Ernährungsfachleute kommen nach Kassel – zu ihrem Kongress. Da gibt es für die Medienvertreter auch eine Pressekonferenz – an der ich als armer Blogger leider nicht teilnehmen kann; wie das mit dem Aufgleisen auf die „reich-durch-Bloggen-Schiene“ funktioniert, wird zwar überall erklärt, aber das sind wohl Fake-Anleitungen. Dabei wäre der Vortrag
Herausforderung Adipositas: Das Verhalten ändern oder die Verhältnisse? Wie können wir Adipositas erfolgreich bekämpfen?
Professor Dr. med. Johannes Georg Wechsler, Kongresspräsident BDEM, Präsident des Bundesverbands Deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM), München
sicher interessant – wegen dem Wechselspiel von Einzelnem und Umfeld, und weil die „Seuche Adipositas“ doch endlich mal besiegt werden müsste.
„Rezepte allein machen auch nicht schlank“ – schon die lakonische Bemerkung lässt tief blicken: Um das idealtypische schlank-Sein geht es unter gesundheitlichen Aspekten gar nicht, und der Glaube, die Verhältnisse seien quasi unverbesserlich, steht der Veränderung im Weg.Sicher, Rezepte können wertvoll sein, doch die Rezepte, mit denen Bergleute in der Nachkriegszeit satt wurden, sind heute überflüssig. Wir brauchen also etwas zeitgemäßes – hinsichtlich Zubereitung und Menge 😉
Neben dem (Ess-) Verhalten spielen die Verhältnisse, die Rahmenbedingungen ihre maßgebliche Rolle, also
… Qualität von Trinkwasser, Nahrung, Luft; Lern-, Arbeits- und Wohnbedingungen; soziale Lage und Integrationsstatus; Infra-, Versorgungs-, Zugangsstrukturen zu gesundheitlicher Versorgung; allgemeine politische Bedingungen.
So ähnlich mag es auch der Göttinger Ernährungspsychologe Volker Pudel gesehen haben, der 2006 seinen Aufsatz „Verhältnisprävention muss Verhaltensprävention ergänzen“ gleichsam mit einer Bankrotterklärung eröffnet hatte:
Weder Ernährungsaufklärung noch Ernährungsberatung haben in
den letzten 50 Jahren ihr Ziel erreicht. Ernährungsabhängige Erkrankungen
sind nicht rückläufig, die Inzidenz von Übergewicht nimmt
weiterhin zu.
Anders gesagt: Die Jahrzehnte vergehen, und an der Übergewichtsfront sind keine großen Erfolge feststellbar.
Hier wird spürbar, dass der Artikel fürs Fachpublikum gedacht war – Inzidenz einfach mit „Häufigkeit“ zu übersetzen, ist laienhaft und vernachlässigt den Bezug zu „Mortalität“…
Andererseits wird mit dem zeitlichen Abstand auch deutlich, dass die beabsichtigte Nahrungsoptimierung Mode-ahängig war (und ist):
Was gäbe es an diesem Flammkuchen noch zu optimieren?
„Die Deutschen verzehren durchschnittlich zu viel Fett, zu wenig Kohlenhydrate, zu wenig Ballaststoffe.“
Das waren doch noch Zeiten, in denen das Weltbild der ErnährungsberaterInnen noch einfach gestrickt war. Klar, damals wie heute gilt:
„Der Verbraucher will gesund und gut
essen. Im Zweifel allerdings entscheidet
er sich für „gut“…“
„… oder viel“, könnte man ergänzen – und die geheimen Gesetze, die individuell zum ungesund-Essen führen, sind im Dunkeln. Zum Teil zumindest.
Das Mettbrötchen vom unglücklichen Schwein darf aussterben – weil Fleisch künftig im Bio-Reaktor gezüchtet wird. Oder durch vegetarische Alternativen abgelöst – die kann man schon heute in Heimarbeit basteln.
Ungeschrieben sind aber auch die Gesetze der Verhältnisse, unerforscht ja nichtt – formal haben wir die volle Wahlfreiheit…
Dabei haben wir auch die „Wahl“, Lebensmittel mit unverhältnismäßig viel Zucker oder gesättigten Fettsäuren zu erwerben; der Staat kann (Beispiel: Chile) Warnhinweise vorschreiben, oder sie auch „bei aller Fürsorge“ weglassen.
Wahlfreiheit heißt Wahlfreiheit innerhalb des vorgegebenen Angebots. Der Gen-Lachs, der doppelt so schnell doppelt so groß wird wie ein wie ein „normaler“, liefert vielleicht kaum noch, was wir uns an Omega-Fetten vom Fisch erwarten – die Sojagefütterte Turbokuh „spendet“ preisgünstige Milch von vergleichsweise geringer Qualität.
Weil diese und andere Zusammenhänge wenigstens teilweise allgemeinbekannt sind, ist für moderne Sorgen ums Essen gesorgt – die Sorgen der „Steinzeit-Ahnen“ um ausreichende Nahrung und das Überleben wirken in veränderter Form, wie ein modernes Damoklesschwert, weiter.
Heute ist Mangelernährung mitten in Überfluss möglich, und den „eingebauten“ Schutz vor Fehlernährung und Übergewicht haben nicht Alle – manche Idole unterziehen sich drastischen Maßnahmen, um einem Idealbild zu gleichen…
Die „Verpflegung in prekären Einkommensverhältnissen“ gestaltet sich unter dem Diktat der Gewohnheit besonders gegen Ende des Monats schwierig, niederschwellige Finanzberatung kann hier neben der Ernährungsberatung (eigentlich) erforderlich sein , und der Gang zur „Tafel“ würde besser seinen tabuisierten Charakter verlieren.
Ob dabei der Umgang mit Armut zum Verhalten oder zu den Verhältnissen gehört? Richtig ist, dass sie weitgehend beseitigt werden könnte, also auch auf die Agenda gehört.
Auch ein erweitertes Warenangebot muss sich den Anforderungen „… eher doch weniger, aber ballststoffreiche Kohlenhydrate, gesündere Fette und mehr Gemüse, dabei gern mehr Blattgemüse“ stellen.
Ganz junge Senfpflänzchen: Leicht selbst anzuziehen, und scharf im gemischten Salat
Die menschliche „Hardware“ wird genetisch beeinflusst werden, „Defekte“, wie die Neigung zur guten Futterverwertung oder zum Vielessen, könnte man „wegschneiden“ – wozu Oma oder Opa sich kurz vor ihremn eigentlichen Ende noch klonen lassen sollten, kann keine Ethikkommission erklären, aber es wird „Mediziner“ geben, die dankend solche Aufträge annehmen.
Dementsprechend werden Designerpflanzen und -Tiere kreiert werden, zum Beispiel für die moderne Kleinfamilie vierbeinige Gänse mit wenig Federn, die auf ein definiertes Signal hin fröhlich schnatternd ihren Hals auf das Schafott legen.
Von „verstecktem Zucker“ will niemand etwas wissen – und was ist mit „verstecktem Fleisch“?
Nur müssen wir uns einstweilen noch mit den alten Bedingungen abmühen. Dazu zählt, dass das Verhalten nicht nur planmäßig um den Teller herum stattdindet, sondern auch psychisch motiviert ist.
Die Klienten setzen den Lehrplan der Ernährungsberatung nicht fehlerfrei um, was zu lernen ist, trifft auf Widerstand, oder alte Gewohnheiten leben weiter. Das kann unter Anderem zusammenhängen mit
- Körpergefühl – Body-Image
- Mikro-Identifikationen
- Ambivalenzen gegenüber dem Essen
- Tradition und Idendität
- Essgehorsam
- Beratungsresistenz
- Narzistischer Problematik
- In diesem Zusammenhang: Larvierte Ich-Spaltung
(Schlafwandlerisches Essen, „innerer Schweinehund“, Rationalisierende Rechtfertigungen und Affektabspaltung) - Scham- und Schuldgefühlen
- Pseudo-Ego
- (Erleben von) schizophrenogenem Verhalten
- Diversen Traumen
- Ängsten, Erwartungen, Frustrationen
- Erwartungsstrukturen
- Ungesunder Stimmungsmodulation
- Regression
- …
Ist ein Beratungsplan demgegenüber nicht nur eine schöne Absichtserklärung?
„Brustfilet im Schlafrock“ – genauer: Curry-mariniertes Hühnerbrustfilet im Dinkel-Vollkorn–Hefeteig.
Liest man „Millionen Todesfälle aufgrund von falscher oder unzureichender Ernährung“, muss man sich Mühe geben, das nachzuvollziehen.
Dass auch an schlechter Luft mehr Personen sterben, als man gemeinhin denkt, macht die Sache nicht besser: Die Verhältnisse sind schlecht. „Das System“ gehorcht Gesetzen, die nicht das Optimum für die Bürger bewirken. Die Bürger können sich nicht als Gesellschaft auf neue Wege begeben, weil sie dafür einig über Ziele, Mittel und Wege sein müssten – weil aber Konkurrenz das System „belebt“, scheuen sie den Blick über ihren jeweiligen Tellerrand.
Zudem fehlt häufig das Wissen über arbeitsteilige Formen der Zusammenarbeit, „fremdes“ Wissen wird gering geschätzt, auch sind Zusammenhänge, etwa zwischen Ökologie und Ernährung, zu wenig bekannt und bewusst.
Um “Lebensqualität und die Schaffung gesunder Ernährungsumgebungen” sollte man sich vordringlich kümmern – gerade bei der Tischgesellschaft haben sich ungute Veränderungen breitgemacht – alleine im Steh’n zu essen kann nicht Sinn der Übung sein, wenn einzig die Margarinewerbung noch eine Vorstellung vom „Savoir Vivre“ liefert, ist die Idee auch schon gründlich verzerrt.
Die deutsche „Gemütlichkeit“ und froher Familiensinn sind unbekannt verzogen.
Mit dem Einzug des Fernsehgeräts erst kam die Nation auf die fixe Idee vom „Knabberspaß auf dem Sofa“ – mit Chips aus knisternden Tüten mit ausgetüfteltem Sounddesign. Weil das eine Fehlentwicklung ist, werden die ausgewiesenen Ernährungsfachleute läüngst nicht die Supermarktregale umsortieren oder blockieren 😉
„Zum Wohle des Ganzen“ ist den BeraterInnen, die eigentlich nur einzelne Klienten erreichen, die Aufgabe, die Verhältnisse – zumindest in ihrem Ressort – zu verbessern, zugefallen. Die können sie auch angehen.
Zum gelegentlichen Knuspern hätte ich noch eine Knabberspaß-Alternative zum selbst-Backen anzubieten: Pesto-gefüllte Hefestangen mit Kefir-Creme-Dip und Tomatenbeilage.Dass schon im Märchen geknuspert wird, deutet auf ein „hedonistisches Urbedürfnis“ hin, der Zusammenhang mit der Hexe, die im entsprechenden Häuschen wohnt, auf unsere Ambivalenz demgegenüber. Fragt sich, wer nicht nur den Verzicht predigt, sondern auch gekonnten, nachhaltigen, massentauglichen Hedonismus vermittelt.
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