Jugendliche und Adipositas – Langzeit-Therapie
Geschrieben am 3. Januar 2007 von KPBaumgardt
Wenn die Adipositas weltweit auf dem Vormarsch ist, darf uns das nicht trösten und ohnmächtig zuschauen lassen.
„The Economist“ hatte über die internationale Adipositas-Entwicklung berichtet: In Ländern, die sich in starker Entwicklung befinden wie z.B. Süd-Afrika, liegt die Adipositas bei Frauen mit 30% nur knapp unter dem entsprechenden Wert in Amerika. (18. August 2006)
Die Belastungen der armen Länder durch „Diabetes, heart disease and other so-called diet-related non-communicable diseases“ verlängern die Liste der Krankheiten, die diese Länder bereits überfordern, „malaria, AIDS and tuberculosis“.
Die „diätverwandten nichtübertragbaren Krankheiten“ wirken sich gleichwohl wie Seuchen aus: die breite Bevölkerung ist einfach nicht immun, wenn das Nahrungsangebot ein gewisses Mindestmaß jenseits des allgemeinen Mangels übertrifft.
In den reichen Ländern sollte hingegen die Möglichkeit gegeben sein, Krankheiten, die durch die Lebensweise bedingt sind, effektiv zu bekämpfen.
Unsere Kinder und Jugendlichen erkranken, und als verantwortliche Gesellschaft müssen wir tun, was irgend machbar ist, um ihnen ein Leben in Gesundheit zu ermöglichen.
Von denen, die heute Kinder und Jugendliche sind, hängt die Zukunft unserer Gesellschaft ab – damit geben wir ihnen eine schwere Hypothek auf den Weg.
Enorme, und weil vom Lebensstil abhängig, unnötige Belastungen unseres Gesundheitssystems bedrohen zusätzlich unseren Wohlstand.
Prävention und Verbraucherberatung, Ablenkung
Manches, was unter dem Mantel der Vorbeugung angekurbelt wird, wirkt – am Rande – komisch: Von der Website der „Plattform für Bewegung und Ernährung“ aus gibt es den Link zu „Ernährungstipps von Mitgliedsunternehmen“ und dort finden wir bei einer Art Frage-Antwort-Spiel, das auch einige Fragen nach Gläschennahrung im Sinne des Herstellers beantwortet, das folgende:
„…kaffee enthält unter anderem Zichorie. Was ist Zichorie?
Zichorie ist die Wurzel der „Gemeinen Wegwarte“. Die „Gemeine Wegwarte“ ist ein Korbblütengewächs, das im Sommer blau blüht. Es ist eine typische Pflanze der Weg- und Ackerränder. Zichorie wurde früher als Heilpflanze für Magen- und Leberleiden verwendet. Aus der gleichen Pflanzenfamilie sind unsere Salatpflanzen „Endivien“, „Chicoree“ und „Radicchio“.“
Verbraucherberatung mit Werbung und Kräftigung des Markenbewusstseins wird ja schon immer gerne gemacht. Die Frage nach der Zichorie hätte aber auch jedes Universallexikon beantwortet, im Internet ist auch eine Abbildung des gesuchten Gegenstands leicht zu realisieren – beim Abnehmen ist Kinderkaffee ohne Bedeutung.
Man hat das Gefühl, wie bei einer sinnlosen Jo-Jo-Diät, etwas in Angriff genommen und (sich) informiert zu haben.
Essgestörte brauchen keine Kaufanreize, sondern Strategien zu Konfliktlösungen, um mit einer Suchtproblematik umzugehen, Stärkung des Selbstbewusstseins, Hilfe zur Selbsthilfe, manchmal Begleitung in schwierigen Situationen.
Wer hilft?
Die Jugendlichen sind gleichzeitig über- und unterfordert, Schule ist keine Lebensaufgabe, soll aber Lebensinhalt und das angesammelte Wissen Zukunftsbasis für die Kids sein.
Der bereits von Alexander Mitscherlich gesehene Trend, dass die Familie nur noch wenig Orientierung vermitteln kann, hat sich verschärft („Die vaterlose Gesellschaft“). Da die Zeiten immer moderner werden, scheinen die aktuellen Vorbilder an Wert zu verlieren. Die Kapazitäten für eine humanistische Bildung sind vollends geopfert, Pisa grinst hämisch und verstärkt die Leistungsanforderungen.
Wurde früher zur Pop-Musik mal ein Bier getrunken, verlocken heute die Alkopops und senken die Hemmschwelle zum Kampf- und Komasaufen. Die Einsicht, den falschen Regeln zu gehorchen, ist ja nie ausgeschlossen.
Jugendliche, die unglücklicherweise übergewichtig geworden sind, suchen Orientierung und finden Desorientierung, die Esslust kommt von innen und wird von außen aufgestachelt.
Wir sollten denen, die es brauchen, mal eine Art Auszeit gönnen.
Es gibt entsprechende Einrichtungen, was Langzeitmaßnahmen betrifft, jedoch nur ca. siebzig Plätze in der Bundesrepublik (insula.de). Das scheint nicht mehr, als der Tropfen auf dem heißen Stein zu sein.
Weitere Einrichtungen, mehr Beratung vor Ort und ganzheitliche Konzepte müssten entwickelt werden.
Der Flaschenhals zum Zugang zu Langzeitmaßnahmen für Jugendliche befindet sich bei den Krankenkassen. Natürlich kann man die Kosten für „Kuren“ dämpfen, deckeln, einfrieren. Aber was haben wir davon, wenn wir am falschen Ende sparen? Wie viele Anträge für Maßnahmen werden gestellt, und wie viele werden abgelehnt? Wie krank sind die heute jugendlichen Adpositas-Patienten in 10, 15, 20 Jahren?
Wir kennen die Prognosen, wenn keine Behandlung erfolgt. Hilfsbedürftige ihrem Schicksal zu überlassen, ist schnöde und nicht mehr zeitgemäß – sehr zurückhaltend gesagt.
An Insulin und Beta-Blockern wird hierzulande auch künftig kein Mangel herrschen. Die mangelhafte Versorgung der therapiebedürftigen „Kids“ zu verbessern, wäre ist dennoch Aufgabe der Gesundheitsreform. Aber schnell!
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