Aly kämpft seit 40 Jahren

War da was, vor 40 Jahren? Eine Revolution doch wohl nicht. Revoluzzer mag es gegeben haben, 1968, Studentenunruhen und -Bewegung, aber nichts einheitliches, neue Moden, Stilrichtungen und viel Kritik an Establishment und Spießertum oder kleinbürgerlichem Spießbürgertum.

Das entwickelte sich eine Weile und fiel wieder zusammen. Unter "Links" verstand man Marxismus, antiimperialistischen Kampf, Leninismus,  Maoismus, Revolution, Auflehnung, Revolution und Sozialismus.

Die Revoluzzer, Hausbesetzer Raubdrucker und Flugblattverteiler hielten aus dem Stegreif Vorträge über Marx, Lenin, Engels, Wilhelm Reich, antifaschistischen Kampf, Reaktion, Repression,  Summerhill, Kommunen, die Commune, utopischen Sozialismus, notwendig falsches Bewusstsein, die Funktion des Orgasmus, die sexuelle Revolution, imperialistische Massenkulturindustrie und den historischen und dialektischen Materialismus. MEGA hatte nichts mit Atomstrom zu tun, sondern bezog sich auf ein paar Regalmeter blaue Bücher, die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Die Räterepublik war mancher Phantasie zufolge zum Greifen nahe. Bei der Massenpsychologie des Faschismus ergaben sich Verständnisprobleme, Entfremdung war irgendwie vorhanden und kritische Theorie und Sozialpsychologie das praxisfremde  Produkt bourgeoiser Schmarotzer Idealisten.

Die Nachkriegsgeneration führte ihren antifaschistischen Kampf gegen die Akteure des Nationalsozialismus, Stellvertreter und Täter, zur Not gegen die eigenen Eltern, denen es Mitwisserschaft und Mitschuld nachzuweisen galt, verbündete sich mit Ho-Chi-Minh und bekämpfte den Schah von Persien und Axel Springer.

1968 war ich elf Jahre jung und konnte in den folgenden Jahren die Entwicklung der "68-er" aus der Perspektive dessen, der nicht recht versteht, was da los ist, verfolgen. Zersplitterte K-Gruppen, revolutionäre Zeitungen an jeder U-Bahn-Treppe, Demos, Spontis, Frauenbewegung, Anarchisten, Ökos, Friedenskämpfer, Kämpfer und Aussteiger, Mescaleros beanspruchten das Label "Fortschrittlich" oder "progressiv".  Die Fahndungsplakate, jahrelang mit geringen Veränderungen und unübersehbar  in öffentlichen Gebäuden, sprachen ihre eigene Sprache.

Guerilla-Marketing, Aktionen, die mit untypisch geringem Mitteleinsatz eine große Wirkung erzielen sollen, betreibt auch Götz Aly, wenn er sein jüngstes Buch

"Unser Kampf"

benennt. Der Titel prägt sich unweigerlich ein, zwingt unweigerlich zur Assoziation mit Hitlers "Mein Kampf", erregt Widerwillen oder Neugier.

Die TAZ gesteht der Kriegsgeneration eine kollektive Verdrängung zu, und Aly attestiert den Revoluzzern faschistische Tendenzen.

Der inflationäre Faschismusbegriff vernebelte lange einen klaren Blick für konkrete Schuld. Es gab in Familien auch kaum gelungene Dialoge zwischen Eltern und Kindern – und selbstgerecht waren nicht nur die Eltern.

Das "Wir-Gefühl", das ein Titel wie "Unser Kampf" ausdrücken soll, will sich nicht so recht einstellen. Der Rückblick erzeugt ein schales Gefühl. Die Sprachregelung vom "Marsch durch die Institutionen"  verschleiert,  verdeutlicht, was aus den "Genossen" geworden ist.  Vorbei das Hochgefühl, das Sprechchöre wie "Hoch die internationale Solidarität" erzeugten…
Aus unverarbeitetem Hass auf die Unterlassungen der  Großelterngeneration und der Verdrängung des 68er Versagens entsteht eine kleine Gehirnwäsche.  (Versagen jedenfalls in Hinblick auf den gescheiterten Führungsanspruch)
"Unser Kampf" hat keinen konzeptionellen Gegenwarts- und Zukunftsbezug.

Brechen wir hier lieber ab. Das "Wir-Gefühl" der politischen Gruppen hat sich allzusehr, auch bei Splittergruppen, als Einigung als Masse dargestellt. Ein "Wir" könnte mehr bedeuten, als über diffuse gemeinsame Ideale zu verfügen. Das Massen-Ich mag die Kompensation einer individuellen Ich-Schwäche sein.
Ein Gruppengefühl kann nur entstehen, wenn die Mitglieder aus der Anonymität der Masse heraustreten, sich kennen-lernen, und zusammen-arbeiten.

So hat jeder seinen Kampf.  Nicht, dass der aussichtslos wäre – aber wer oder was ist (hier) eigentlich der Hauptgegner, und wo sind die Verbündeten??

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3 Kommentare zu “Aly kämpft seit 40 Jahren”

  1. Hier gibt es ein Interview mit Götz Aly
    http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/343/157921/

    Zitate:
    „Diese Studentengeneration hatte etwas Elitäres, auch Narzisstisches. Aus dieser selbstverliebten Revolte gingen Menschen hervor, die sich immer auf der besseren Seite der Geschichte sahen. Ohne selbst eine reale Leistung erbracht zu haben, kultivierten sie ein moralisches Überlegenheitsgefühl. Gerade die Ostdeutschen bekamen das in Form permanenter Besserwisserei zu spüren.

    Die Darstellung der 68er aus ihren eigenen Quellen blendet aus, dass auf der anderen Seite sehr vernünftige, lebenserfahrene Menschen saßen. Sie standen zwischen den über Nacht radikalisierten Studenten und Leuten wie den Berliner Polizeiführern, die zum Teil der SS angehört hatten. Die Vermittler wurden in dieser Situation zerrieben. Sie sind die wirklichen Helden von 1968, aber keiner spricht von ihnen.“

  2. Götz Ali ist in letzter Zeit wohl häufiger interviewt worden. Ein Video hier:
    http://www.3sat.de/mediathek/?obj=7595

    Vergangenheitsbewältigung war wohl auch bei F.W. Bernstein das Anliegen: „Die schärfsten Kritiker der Elche
    waren früher selber welche“.

    http://www.fw-bernstein.de/?ueber_FWB=neckelmann_interview

  3. […] Gut, die "freie Liebe", das war Ideologie. "Wer zweimal mit derselben pennt…" – Dumme Sprüche, die niemanden interessieren. […]

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