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Die Diät eines fetten Volkes, seine Ernährungsberatung und seine Selbsthilfe

Weil alle Lebensvorgänge Energie verbrauchen, die durch „Verbrennung“ gewonnen wird, müssen wir uns ernähren.

Die Forderung, sich optimal (mit allem, was der Mensch braucht) zu ernähren, stammt aus Zeiten der Not und Rationierung; die Zufuhr optimal zusammengesetzter Nahrung hat sich jedoch die Ernährungsberatung auf ihre Fahnen geschrieben – die Untersuchung und Lehre körperlicher Vorgänge im Zusammenspiel mit den erforderlichen Nahrungsmitteln.

Die Produktion der Nahrungs- oder Lebensmittel ist bekanntlich von der jeweiligen Kultur abhängig; je nach klimatischen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen wird z.B. Reis, Hirse oder die Kartoffel angebaut.

Wir haben das Menschheitsstadium der Jäger und Sammler längst verlassen und begehen den Übergang von den „Ackerbauern und Viehzüchtern“ in die technologische Gesellschaft.

Wie in vielen Bereichen, „muss“ auch bei der Nahrungsproduktion die stets neueste  Technologie angewandt werden; zum „Segen“ der Gentechnik haben wir zwar nur Hypothesen und keine Erfahrungen, überlieferte Menschheitserfahrungen sind ja auch in der Praxis nicht relevant, entsprechen nicht der Mode, finden keine Anwendung.

Die psychischen Bedürfnisse, die neben dem „somatischen Bedarf“ existieren, werden heute gerne  vernachlässigt; vor Hippokrates waren die Zustände des Gemüts in der Diätkunde noch ebenso wichtig wie Ernährung und Verdauungsvorgänge und Ausscheidungen.

Die Betrachtung des Menschen als irgendwie programmierter Automat ist weit von dem Selbstverständnis als leib-seelische Einheit entfernt.

Während einem Vitamin- oder Mineralstoffmangel vorgebeugt und abgeholfen werden kann, geraten mögliche seelische Mangelzustände aus dem Blickfeld.

Dummerweise – oder zum Glück(?) kann Mensch sich mit Essen trösten. Schokolade z.B.  kann den Serotoninspiegel erhöhen.  Das funktioniert auch in dem Sonderfall von Enttäuschungen, die aus unerfüllten Erwartungen resultieren; sind die (permanenten) Erwartungen unrealistisch hoch, sprechen wir von einer Mangelneurose, die mit der ständigen Empfindung und Erwartung eines Mangels verbunden ist.

Narzisstischen Bedürfnissen, die über den Warenkonsum in der Vergangenheit leidlich befriedigt werden konnten, ist weiten Teilen der Bevölkerung durch verschiedene Verteuerungen,  Steuer- und Gebührenerhöhungen diese Kompensationsmöglichkeit jüngst versperrt worden.

Entlassungen, Zeitarbeitsverträge und Lohnkürzungen bei gleichzeitiger Maximierung der Produktivität erzeugen Permastress, der jedoch verleugnet wird.

Ein zweifaches Defizit erlaubt sich an diesem Punkt die Ernährungsberatung, und erklärt sich für psychische Belange als nicht zuständig. In der Folge kann sie nicht funktionieren, versäumt aber, diesen klaren Befund mitzuteilen.

Dem Leiden an (überhöhten) Erwartungen ist letztlich nur durch Vernunft und manchmal Verzicht beizukommen. Dabei erfordert wirklicher Verzicht Freiwilligkeit und die Einsicht in den Sinn („geben ist seliger als nehmen“) sowie die  glaubhafte Notwendigkeit; mit „wer gibt, dem wird gegeben“ werden ja stets die Steuer- Preis- und Gebührenerhöhungen und Lohnkürzungen begründet. 

 

Möglicherweise wird der Mangel an Perspektiven und erzwungene, scheibchenweise Verzicht auf Wohlstand unbewusst mit Nahrung kompensiert. Werbebotschaften, die zur Limonade die glückhafte Pause und zum gefüllten Weichbrötchen das Gefühl, etwas Besondere zu erleben, suggerieren, werden jedenfalls trotz ihrer Absurdität hingenommen. Süß und fettig sind die verbreitetsten Geschmacksrichtungen – das ist bitter.

Ernährungswissen

Bei Internetrecherchen ergibt sich immer wieder der Eindruck, zuständig sei die DGE. Laut eigenem Slogan ist sie „der Wissenschaft verpflichtet“.

Mit dreidimensionalen, faltbaren Lebensmittelpyramiden wird ohne signifikante Ergebnisse im Verhalten der Verbraucher hier die „perfekte Ernährung“ erklärt; Seminare verbessern das Fachwissen.

So gibt es für einige FachberaterInnen ein Seminar zu „alternativen Methoden in der Adipositasberatung“. Hier steht offenbar das Körperbewusstsein von (übergewichtigen) Frauen, das per Selbsterfahrung erspürt werden soll, im Mittelpunkt. Für Männer sind keine sonderlichen Alternativen vorgesehen; die Empfehlungen der DGE dürften insgesamt wenig nutzen.

Immer wieder wird die Notwendigkeit der individuellen Ernährungsumstellung betont, obwohl wir gesellschaftlich  in den letzten hundert Jahren ungefähr vier große Ernährungsumstellungen hatten.

Der jetzige Trend, Fertignahrung als Erleichterung der Hausarbeit zu verkaufen, kommt einerseits von der Berufstätigkeit der ehemaligen Hausfrauen, befreit andererseits auch von der Option, bewusst und kreativ zu kochen.

Vorgegeben sind somit Portionsgröße, Geschmack und Zubereitung, das Kochen wird  einfach und simpel, und auch die Chips kommen aus der Tüte, wenn wir schon einmal dabei sind, wobei sich Manche nie beherrschen können, aber denen hilft in Zukunft vielleicht eine Ampel, sich zu orientieren.

Für die Unwissenden unter uns hat dann der Handkäse einen grünen und der Camembert einen roten Punkt.

Ernährungswissen in seiner eigentlichen Vielfalt wird so nicht verbreitet. Das praktische Ernährungswissen, das in Form schmackhafter und zuträglicher Mahlzeiten seine Umsetzung findet – von der Kantine bis zum Single-Haushalt – ist unkompliziert und leicht zu lernen, aber wenig verbreitet.

Es gibt offenbar das Vorurteil, „vollwertig“ sei mit Verzicht verbunden – und wir wollen ja nicht verzichten, wonach letztlich niemand fragt; die Energiepreise allein erzwingen schon genug Verzicht. Davon nicht betroffen sind wohl nur die Bevölkerungskreise mit den großzügigsten „Diäten“; die breite Masse ist längst zu Einschränkungen gezwungen, und der schöne Schein vom generellen Überfluss verzieht sich. Die Negierung in der Debatte um die neue Armut war nur der Versuch, ihn aufrechtzuerhalten.

Die Forderung nach Lebensqualität sollte wieder mehr Gewicht bekommen, gerade wenn der „Lebensstandart“, wenn der Wohlstand reduziert ist. Wenn in der Diskussion um die Adipositas der Begriff „Selbsthilfe“ so gut wie gar nicht auftaucht, wäre dieses Defizit auch zu erforschen: Hier wird allenthalben dem Gedanken gehuldigt, es gäbe im Bereich der Adipositas eine funktionierende Selbsthilfe, so muss sich niemand Gedanken machen, warum dem nicht so ist.


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Oktober 2006

 

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