Hormone, die das Fett festhalten
Wissenschaftler erfinden Diät-Mythen
Allgemeiner Konsens herrscht bei der Feststellung: "Wo man nichts
machen kann, kann man nichts machen."
Was den Fettstoffwechsel betrifft, kommt die Forschung oft genug
zu genau diesem Ergebnis.
"Fett ... funktioniert wie ein Organ, wie eine
Art große Drüse, die den menschlichen Körper stark beeinflusst und steuert.
Das Gewebe produziert Hormone, ... kann sogar den Stoffwechsel steuern.
Der Körper verwendet Fette als Signale für die Zelle und als Hormone.
Das Haschisch-Hormon Anandamid ist ein Hormon, das den Hunger regelt.
Das Leptin übermittelt dem Gehirn Signale, ob genug Fett im Körper ist.
Bei vielen Dicken allerdings lautet seine fatale Botschaft dann "weiteressen".
Wie man mit modernen Analysetechniken herausgefunden hat, gibt es im
Körper gleich mehrere Hormone, die zusammen sicherstellen, dass
das im Körper vorhandene Fett nicht abnimmt." [3SAT(Hervorh.
d. Verf.)]
So weit, so gut. Die biologische Regulation ist kompliziert, gar nicht
zu reden von der psychischen Regulation des Hungers, die von Empfindungen
abhängt, die im Kernspintomatographen kaum messbar sind, vielleicht
gar nicht erst auftauchen. Der Patient könnte zwar darüber
reden, aber das wäre sinnlos ohne empathische Zuhörer. Doch
es geht weiter im Text:
"Das macht das Ganze für Abnehmwillige so schwer,
denn evolutionsbiologisch ist nur Essen
und Zunehmen sinnvoll. Das war für die chronisch unterernährten Urmenschen
bestimmt sinnvoll. Doch die Umstände haben sich dahingehend
geändert, dass der moderne Mensch praktisch jederzeit die Möglichkeit
hat, zu essen. Eine fatale Entwicklung dieses hormonellen Triebs
besteht darin, dass schon die Hälfte der Deutschen übergewichtig ist,
Tendenz: steigend." (a.a.O., Hervorh. d. Verf.)
Das Mästen als Kulturtechnik
Sicherlich gibt es eine Vielzahl von Hormonen im Körper, und spätestens
seit der Anti-Baby-Pille wird auch massiv in den menschlichen Hormonhaushalt
eingegriffen; auch von dem, was in der Tiermast eingesetzt wird, dürfte
sich einiges beim Menschen wiederfinden.
Sicherlich ist das Zusammenspiel kompliziert. Dass Hormone sicherstellen,
dass das im Körper vorhandene Fett nicht abnimmt, ist aber schlicht
falsch - oder die, die postiv abnehmen, hätten eine Hormonstörung.
Und allgemein ist es ja noch so, dass die "hormonellen" Triebe
sich gegenseitig beeinflussen und die Herausbildung von Triebzielen
und -Schicksalen zutiefst mit den Biographien, Erfahrungen, Wünschen,
Verboten und Möglichkeiten zusammenhängt.
Mit
Aussagen über "die Urmenschen" bewegen wir uns schnell
auf brüchigem Eis. Wer definiert, was ein Urmensch
ist? Schriftliche Überlieferungen haben sie jedenfalls nicht hinterlassen,
sonst wären es keine Urmenschen mehr gewesen. Unsere Mythen und
Märchen mögen vom Kern her noch einiges "urmenschhafte"
enthalten - und eigentlich enthalten alle Schöpfungsmythen Schilderungen
einer paradiesischen Epoche, Mangel dürfte also nicht durchgängig
geherrscht haben - aber das ist Spekulation, psychoanalytisch gesehen
sind die Schilderungen der Urzeit auch Erinerungen an die Zeit als Säugling.
Die Venus von Willendorf entstand um 25.000 v. Chr.: Eine 11 cm hohe
nackte Frauenfigur mit hohem Körperfettanteil.
Was die ursprünglich dick mit Rötel bemalte Skulptur mit Fruchtbarkeit
zu tun hat, könnten wir nun fragen. Dass die Urmenschen in Gruppen
oder Horden zusammenlebten, können wir annehmen, da der Mensch
ja über die Verwendung von Sprache definiert wird und als Einzelwesen
keine Sprache entwickeln kann.
Die Arbeitsteilung und Spezialisierung ging also über die Unterschiede
zwischen "männlich" und "weiblich" hinaus,
was sich auch durch die unterschiedlichen Lebensalter der Mitglieder
der "Urhorde" ergibt.
Diese "Venus" wird keine Nomadin gewesen sein, regelmässige
Märsche hätten auch ihre Pfunde schmelzen lassen. Wahrscheinlich
waren ihre Fettpolster als Energiespeicher gedacht: Natürlich wurden
die Urmenschenkinder gesäugt, ob von leiblicher Mutter oder Amme,
spielte für das Überleben keine Rolle; eine stillfähige
Frau mit entsprechenden Energiereserven konnte das Überleben mehrer
Kinder sicherstellen, auch wenn der Nachschub an Nahrungsmitteln mal
wieder "hakte". Kam sie so ihrer "Funktion" nach,
hat sie auch abgenommen, was zuvor, unter welchen Umständen auch
immer, "angefuttert" worden war.
Von der Evolutionstheorie her können wir nun feststellen, dass
genetisch die Disposition zu vielerlei Ausprägungen gegeben ist,
dass aber die Ausformung von der Dynamik der Gruppe, der das Individuum
angehört, abhängt.
Wer weiß schon, ob, wie und warum sie verehrt worden ist?
Welche Botschaft diese "Venus" noch heute übermittelt,
hängt davon ab, was wir aus der Skulptur herauslesen. Da sie kein
Gesicht hat, ist sie auf "Körper" reduziert. Da über
ihre Augen eine Mütze gezogen ist, gab es keinen Blickkontakt mit
ihr. Offenbar gibt es auch keine bestimmte Botschaft, außer der,
dass die Urmenschen bestimmt nicht ausnahmslos chronisch unterernährt
waren.
Übergewicht war möglich, aber die Ausnahme, und muss
- im "Ausnahmefall" - eine bestimmte Bedeutung für den
Clan gehabt haben, die wir nachträglich kaum bestimmen können.
Die Venus von Willendorf hat kein hormonelles Signal zum Weiteressen
bekommen, sondern ist aus kultischen Gründen, die wir ncht kennen,
gezielt, mit Absicht gemästet worden. Wie bei der Skultur die Brüste
hervorgehoben werden, legt nahe, dass möglicherweise die Muttermilch
eine zentrale Bedeutung hatte.
Das Argument, dass wir zunehmen, weil es für die chronisch
unterernährten Urmenschen sinnvoll war, zunehmen zu können,
ist nicht mehr haltbar.
Der evolutionsbiologische Sinn der Fettreserven kann ja nur in ihrer
Verfügbarkeit bestanden haben - sonst wäre die Situation ja
sinnlos wie bei einem Sparbuch, auf das man nur einzahlen , nicht aber
abheben kann.
Vor der noch dazu fälschlichen Behauptung genetischer Vorherbestimmung
ist die Erforschung, welche Funktion, welchen "Sinn" Adipositas
in der Vorzeit hatte, und welchen "Sinn" sie heute hat, notwendig.
Da in der Vorzeit die Nahrungsbeschaffung auch mit dem Verbrauch von
Energie einherging, war die Herausbildung von Adipositas hier nur im
Zusamenhang der Arbeitsteilung der Gruppe möglich - die "Venus"
wurde aus bestimmten Gründen gefüttert, bzw. ihr wurden überdurchschnittlich
viele Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt.
Wenn unser Unterbewusstsein manchmal "Geld" und "Brot"
gleichsetzt, könnten wir auch sagen, sie ist für irgend etwas
bezahlt worden, und müssten in die Erforschung der Ökonomie
der Urmenschen einsteigen.
Dass die Venus bis heute "nur" ein Symbol ist, vereinfacht
die Analyse zwar nicht, die Erforschung des uralten Symbols liefert
aber mehr Erkentnisse als die Bestimmúng von Fetthormonen, deren
Zusammenspiel wir nicht wirklich verstehen können:
Entscheidend für die Herausbildung der Adipositas waren von Anfang
an soziale Zusammenhängen, Interaktionen in der Urhorde.
Reserven haben jederzeit ihren Sinn, Reserven hat man auch mit Idealgewicht.
Dass der Impuls, bis zur Übersättigung zu essen, ein ausschließlich
hormoneller sein sollte, ist unlogisch. Außerordentliche Reserven
sind kein Schicksal, sondern mit viel Übung angelegt worden. Kein
Mensch exitiert für sich allein und isoliert, und niemand legt
Fettreserven an, ohne soziale Gründe dafür zu haben.
Zu behaupten, das liege alles nur an den Genen und der Evolution, fördert
nur die Resignation, und wer resigniert, wird nichts ändern können,
aber vielleicht hilflos nach der Abnehmpille mit dem alles entscheidenden
Hormon schreien - und vertröstet werden: Die Wissenschaft hat es
in Arbeit, ist aber noch nicht so weit.
Während wir auf Ergebnisse warten, erkennen wir, dass vieles von
vielem abhängt, dass die medizinischen Zusammenhänge vielfältig
sind, und dass wir wesentlich mehr Zeit als die Labormäuse
hatten, unsere Vorlieben und Verhaltensmuster zu entwickeln.
Da es nicht nur Hunger- und Sättigungshormone, sondern auch Sexual-
und sonstige Hormone gibt, die unsere Gestimmtheit und die unserer Umwelt
beeinflussen, erwarten wir allenfalls Zwischenergebnisse. Dabei ist
die Hormonforschung durchaus interessant - zeigt sie doch auch, wie
Umgebungsreize sich auf den Hormonspiegel auswirken können, und
körperliche Aktivitäten vorbereiten.
Und es geht doch auch ohne Medikamente.
Die Fettreserven können - mit entsprechender Übung - auch
wieder abgestoßen werden. Bei dem einen mit Langstreckenlauf und
Verzicht auf Alkohol - so lange er sich daran hält.
Bei anderen, indem sie ihren Gefühlen wieder mehr trauen, bei
anderen mit "mentalen Veränderungen", die die Ernährungsumstellung nach sich ziehen.
Den Anfang wagen kann man aber nur, wenn man realistische Chancen sieht,
dass der Versuch gelingt.
Wenn Wissenschaftler im Prinzip sagen: "Da kann man nichts machen",
zerstören sie auch jede Hoffnung. Das gilt auch für Jounalisten,
und ist ethisch nicht vertretbar.
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