Kostendiskussion oder Diskussionsreform?
Gar nicht mehr aus den Schlagzeilen verschwindet die Diskussion um
die Gesundheitsreform, und dabei geht es gar nicht um eine Reform
des Gesundheitswesens, sondern die Umverteilung von Kosten.
Während Ärzte und Apotheker Dienst nach Vorschrift machen,
weil das Einkommen sinkt (aber wo sinkendie Reallöhne nicht?),
sollen die Patienten steigende Krankenkassenbeiträge, erhöhte
Rezeptgebühren aufbringen und verminderte Leistungen in Kauf nehmen.
Eher unbemerkt müsste die Qualität oder Quantität der
medizinischen Versorgung sich verbessert haben, da z. B. in Hessen in
den 10 Jahren zwischen 1992 und 2002 die Bevölkerung nur unwesentlich,
um 2,4%, hingegen die Zahl der Ärzte um 23% gestiegen ist - dennoch
wird die Versorgung in der Fläche häufig als mangelhaft empfunden.
"Eigenverantwortung"
Von einer Reform des Gesundheitswesens, die als Verbesserung des Gesundheitszustands
quer durch alle Bevölkerungsschichten sich bemerkbar machen würde,
ist jedoch nicht viel wahrzunehmen. Spürbar ist lediglich die gestiegene
Eigenverantwortung, wenn man bestimmte Medikamente selbst bezahlen muss
oder, weil etwas schief gelaufen ist, beim Einlösen eines Rezepts
nicht unerhebliche Gebühren zu zahlen hat: Wer krank ist, soll
auch zahlen.
Um Eigenverantwortung und Solidargemeinschaft kreisen auch Ideen, diese
oder jene Zusatzrisiken nicht mehr der Krankenkasse zu überlassen
- und schon geistern Vorschläge wie Risikozuschlag für Raucher
und Extremsportler durch die Presse. Dass Vorsorge besser ist als Bohren,
wissen wir schon lange, aber immer noch ist der Lebensstil oft riskant,
verunglücken Fahrer, die ihr Auto nicht beherrschen, und Kinder
putzen ihre Zähne nicht, nachdem sie Schokolade gegessen haben.
pay per risk
Die Idee einiger Volks- und Interessensvertreter, Zusatzrisiken separat
zu versichern, ist brilliant. Zum Beispiel könnte man Skifahrern
die Police gleich in den Skipass integrieren. Wer sich beim Abfahrtslauf
das Bein bricht, wäre über die Abfahrtsversicherung versichert.
Langlauf stellt kein außergewöhnliches Risiko dar, sondern
dient dem Erhalt der Gesundheit und wäre frei.
Weniger unkompliziert wäre das Verfahren der Versicherung pro
Risikofall etwa bei Fallschirmspringern, Tieftauchern, Wildwasserfahrern
- aber die Abschätzung solcher Risiken ist schon lange Routine
innerhalb der Versicherungswirtschaft. Auch eine Reisekostenversicherung
sollte erschwinglich sein, und für alles im Zusammenhang mit der
Arbeit ist bereits die Berufsgenossenschaft zuständig.
Die häufigsten Risiken
Natürlich gehören auch Rauchen, Trinken und Essen zu den
erhöhten Risiken.
Zwar ist die Sahnetorte zum Geburtstag zu verkraften, bricht sich niemand
wegen einer Zigarre das Bein, bekommt niemand wegen einem Bier einen
Herzinfarkt, jedoch versperrt die allzu gewohnte Sichtweise die Erkenntnis
des Problems hinter der Fassade:
Langfristige Gesundheitsschädigungen und akute Vitalitätseinbußen
auf breiter Front.
Risikominimierung, und Fehlanzeige bei Prävention
Die Gesundheitsgefährdung durch krebserregende Stoffe in zu heiß
gebackenem Brot dürfte gegenüber den Hauptrisiken relativ
klein sein - Nebenrisiken bestimmen die öffentliche Diskussion
- vermutlich, weil die Effekte der Gesundheitsaufklärung längst
ausgereizt sind, und nur noch Taten bzw. Hilfsangebote konkret wirken.
Noch keine Steuererhöhung hat den Konsum gefährlicher Substanzen
langfristig vermindert; Hier von den Betroffenen höhere Prämien
zu verlangen, oder diejenigen zu belohnen, die sich gesundheitskonform
verhalten, wurde auch schon vorgeschlagen. Jedoch haben wir es hier
mit "Zusatzrisiken" zu tun, die bereits besteuert werden.
Die Einnahmen aus Tabak- und Branntweinsteuern müssen im erforderlichen,
vollen Maß für Prävention und Rehabilitation verwandt
werden, selbst wenn der Finanzminister das als Nichtraucher nicht nachvollziehen
kann und diese Steuern für sich beansprucht.
Wer von den zwar gesellschaftlich zugelassenen, aber hochgradig gefährlichen
Suchtmitteln loskommen möchte, sollte jede erforderliche Unterstützung
erhalten - dies kann bis zu einem halben Jahr Sanatoriumsaufenthalt,
Lohnfortzahlung u.Ä. bedeuten.
Vom Patienten zum Kunden
Neben der politischen Ebene geht die Ärzteschaft auf der Vermarktungsebene
in die Offensive. Gewisse Leistungen müssen eben vermarktet werden,
wenn sie verkauft werden sollen. Dabei geht es nicht um Kinkerlitzchen
wie Schlankheitspflaster oder Wunderelexiere, sondern um Skalpell und
Laserstrahl, Roboterchirurgie und minimal-invasive Eingriffe zum Wohle
des Patienten.
Es geht zum Beispiel nicht um die Umstellung von Denk- und Lebensgewohnheiten,
sonder um ein Magenband.
Um ein "innerliches Korsett" statt um die Befreiung von Esszwängen.
Faszit
Wer hier keine nachhaltigen Konzepte vorlegt, verspielt die Berechtigung,
seine Gesetzesentwürfe zum sparsamen Geldeinsatz im Gesundheitswesen
noch "Gesundheitsreform" zu nennen.
Intelligente Konzepte könnten der Volksgesundheit dienen und Arbeitsplätze
schaffen - bisher werden Arbeitsplätze im Gesundheitswesen vernichtet
und Krankheit wird toleriert.
Nachtrag
September 2006
"Prävention" wird zur Zeit bei den Krankenkassen großgeschrieben.
So bietet die "Barmer" (wie viele andere auch) Zuschüsse
an für
Teilnehmerkreis
- Versicherte mit ernährungsbedingtem Fehlverhalten ohne behandlungsbedürftige
Risikofaktoren und Erkrankungen oder psychische (Ess-)Störungen.
- Erwachsene Versicherte mit BMI > 25 bis 29,9 sowie übergewichtige
Kinder und Jugendliche ohne behandlungsbedürftige Risikofaktoren/Erkrankungen
oder psychische Essstörungen.
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Angebote
- Kurse zur vollwertigen und ausgewogenen Ernährung
- Persönliche Ernährungsberatung
- Qualifizierte Programme zur Gewichtsreduktion, wie
Abnehmen mit Vernunft (BZgA), Ich nehme ab (DGE), Schlank sein
kann man lernen (BZgA/IFT).
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Man geht hier scheinbar naiv davon aus, dass es Übergewicht
ohne Beteiligung der Psyche gibt. Mit den "qualifizierten Anbietern"
bilden die Kassen nun ein Kartell, das das Ziel hat, die Beratungsangebote
zu steuern. Anbieter und Kassen sitzen in einem Boot, und der Qualitätsprüfer
letzlich auch.
"Ich möchte an dieser Stelle bemerken, dass das Auftreten
irgendeiner anderen Krankheitsursache diesen Ausmaßes in Deutschland
bereits zu einem Seuchenprogramm geführt haben würde. Wir sprechen
hier rund heraus von mindestens 20 % der Gesamtbevölkerung. Dies ist
eine wesentlich häufigere Krankheitsursache als irgendeine andere
schädigende Einflussgröße in unserem Gesundheitswesen."
In diesem Zitat von Barbara-Rose
Legeler ging es um sexuelle Gewalt und Misshandlung als Krankheitsursache.
Beispielsweise Unterleibsschmerzen können posttraumatisch auftreten
und werden selten adäquat behandelt.
Wie viele psychosomatisch ausgebildete Ärzte hierzulande
fehlen, ist jedoch nicht Gegenstand der politischen Diskussion.
Angesichts der Diskrepanz zwischen wirklichem, und nicht
an nachfolgenden Symptomen orientiertem Behandlungsbedarf und Behandlungsangebot
könnten wir von repressiver Gesundheitspolitik sprechen.
Weitere Krankheiten, die gerne als "unauffällig"
und damit nicht behandlungsbedürftig angesehen werden und recht
häufig mit Adipositas bzw. gestörter Körperempfindung
assoziiert sein können, sind Alexithymie und ADHS.
Das Ausmaß der psychisch mitverursachten Krankheiten
wird gesellschaftlich derart unterschätzt, dass ausreichende, adäquate
Möglichkeiten der Behandlung auch nicht geschaffen werden. Die
mögliche Rolle von Selbsthilfegruppen
bei Adipositas wird auch deshalb nicht gesehen, weil die Probleme
verdrängt werden.
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