Diäten in Hessen - und überhaupt
"Fressen" ist bekanntlich eine tierische Tätigkeit: Der
Mensch isst, das Tier frisst. Dennoch gibt es Leute, die davon ausgehen,
dass es fressende Menschen gibt. Diese Auffassung wird in der Redewendung
"Friß die Hälfte" festgehalten, und, wie die Abkürzung "FDH" zeigt,
sogar zur Methode erhoben.
Das tierische Fressen findet sich auch in anderen Zusammenhängen in
unserem Wortschatz: "Friss oder stirb", sagen die einen, und "was auf
den Tisch kommt, wird gegessen" ist nur die abgeschwächte Form des ersten
Spruches. Wir haben es also wirklich drauf, uns tierisch zu benehmen.
Geben einander Anweisungen, die unmenschlich, unkultiviert sind. Und
sprechen von Werten und Leitkultur, die zu bewahren seien. Würden wir
uns dagegen verwehren, Dinge, die sind, wie sie sind, aber durchaus
anders sein könnten, so hinzunehmen, wie sie sind, müssten wir uns gegen
sehr viele sehr unhaltbare Zustände wehren. Gelernt haben wir nur einen
falschen Kompromiss mit den Zuständen - meistens alles hinzunehmen,
zu fressen, hinunterzuschlucken, als unveränderbar hinzunehmen, als
gegeben und unveränderlich anzunehmen.
"Fressnet" als Motto könnte also durchaus noch einen viel weiteren Bezug
als die reine Nahrungsaufnahme haben. Wer sich bewusst ist, was gut
für ihn ist, läßt sich nichts mehr vormachen. Zu oft wird uns eingeredet,
was wir kaufen sollen, gesagt, was gut für uns ist, was wir (aus-)wählen
sollen. Unser Gefühl, dass wir doch nur die Wahl zwischen vergleichbaren
Übeln haben, wird so falsch nicht sein. Wir sind ja der mündige Bürger.
Zu mündig, wenn wir die Statistik des Übergewichts betrachten. Oder
zu unmündig. Selbst wenn wir bezweifeln, dass diese Unmündigkeit selbstverschuldet
sei, ist es wenig sinnvoll, zu denken, dass es dabei bleiben muss. Es
muss doch einen Ausweg, oder Ausgang aus der Unmündigkeit geben ...
Wenig schmeichelhaft ist auch der in unserem "Wortschatz" vorkommende
Ausdruck "Vielfraß"; mit mehr oder weniger Berechtigung wird vorausgesetzt,
dass der "Fettsack" nur zu viel
frisst. Der Imperativ, die Aufforderung zum Fressen ("Friss"), beinhaltet
letzlich, dass sich der (schlanke) menschliche Esser über den (dicken)
tierischen Fresser erhebt. Naheliegend, dass das hemmungslos fressende
Tier als Schwein assoziiert wird - sonst gäbe es auch nicht die Beleidigung
als "fette Sau". Gleichzeitig wird - diesmal näher an der Wahrheit -
auf recht derbe Weise angenommen, dass es sich bei dem, was wir zu uns
nehmen, um einen Fraß handle.
So
kann es natürlich nicht weitergehen. Es gilt, schlicht der Aufforderung
zum Fressen (oder zum weniger-fressen) etwas entgegenzusetzen. Also
etwa den neuen (alten) Imperativ "Friss nicht". Wer sich daran hält,
entgeht der vermeintlichen Notwendigkeit, sich mit der halben Portion
zu begnügen und besteht auf qualitativ hochwertiger Nahrung, eben kultiviertem
Essen, wie es dem Menschen zukommt. Es gilt, unter Stigmatisierungen,
Mobbing und Hänseleien,
denen Dicke - quasi nach dem Motto "Friß oder stirb" - ausgesetzt sind,
einen Schlussstrich zu setzen.
Ebenso kann es das Ende der Selbsstigmatisierung bedeuten, sich an die
simple Regel "Friss nicht" zu halten. Wer diese Regel befolgt, entwickelt
das Bedürfnis nach einer vernünftigen Lebensführung, weil das rauschhafte
Fressen innerhalb eines vernünftigen, bewussten Lebensstils keinen Platz
hat.
"Friss nicht" heißt auf hessisch "fress net", und somit haben
wir es bei Fressnet.de mit einer hessischen Redensart zu tun, die, ähnlich
"babbel-net" oder "guck-net" mit einem Verbot belegt, was wir insgeheim
am liebsten tun. Und bei aller Einsicht in die Sinnhaftigkeit klarer
Vorschriften lassen wir uns doch nur ungern etwas von außen verbieten,
lieber verinnerlichen wir sinnvolle Verbote selbst.
Ist es da nicht schön, dass Fressnet.de auch noch weitere Perspektiven
bietet? Als Gemeinschaftswesen neigt der Mensch dazu, sich mit gleich
Gesinnten zusammenzuschließen, zu vernetzen. Die Endung "-net" steht
im Internet für "Netzwerk", als Teil des Namens ist sie Ausdruck der
Zusammenarbeit der von "dem" Problem Betroffenen. Vorschriften
für dieses Zusammenwirken gibt es hier nicht, nur den Hinweis,
dass Selbsthilfegruppen eine sehr
sinnvolle Einrichtung sind.
Je enger so ein Netz geknüpft wird und je größer und stabiler es ist,
desto mehr kann damit gefangen werden ...
Eine typisch hessische Diät - eine "Hessendiät"
- zu postulieren, ist jedoch nicht viel mehr als ein Spiel mit der
Sprache. Wenn es auch Kampagnen wie "Essen aus Hessen"
gibt, kommen die Orangen, die wir verzehren, doch nicht aus dem Palmengarten
oder der Orangerie. Die Mitglieder einer Diätgruppe müssen,
damit die Gruppe funktionieren kann, schon auch eine räumliche
Nähe zueinander haben; damit ist die Fressnet-Diät automatisch
eine regional begrenzte Angelegenheit. Wo aber eine Fressnet-Gruppe
stattfindet, hängt immer vom jeweiligen Initiator ab und ist keine
Frage des gesprochenen Dialekts. Die hessische Küche - so es sie
gibt - macht schwerlich schlank.
Übrigens:
Nach dem allgemeinen Sprachverständnis, das Hungerzeiten,
einseitige Mahlzeiten und starre Vorschriften als "Diät" bezeichnet,
ist Fressnet.de eine Anti-Diät-Seite.
Nach dem klassischen Verständnis heißt "Diät"
"gesunde Lebensweise", ist dies eine
pro-Diät-Seite.
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