Heißhunger
Tief sitzt der alte Spruch
zum Abnehmen: "Friß die Hälfte". Oft ist es das erste, was
einem zum Thema einfällt.
Wer sich daran hält, leidet Hunger. Der Spruch muss aber doch stimmen,
denn Sprichwörter lügen nicht?
Mit einer halben Portion kommt man nicht weit. Halbheiten sind uns
auch in anderen Zusammenhängen zuwider. Wenn zweimal eine halbe
Portion fehlt, fehlt schon eine ganze Portion. So kann man den Hunger
noch steigern. Dazu noch Kochbücher wälzen, viel ans Essen
denken, und sich irgendetwas absolut verbieten ...
Wir können das ja mal üben: Stellen
uns eine Praline mit einer Kirsche als Füllung vor. Ein geeigneter
Werbespot kann uns dabei unterstützten. Die Situation, in der sie
uns angeboten wird, ist verführerisch. Helle Farben, weiße
Kleidung, transparente Schleier, Licht, Natur. Das Glück, das Sie
mitbringt ... Wir müssen jetzt ins Träumen, ins Schwärmen
geraten, den Appetit und die Lust auf die Praline aufbauen, versetzen
uns in eine angenehme Umgebung mit schönen Farben, Hintergrundmusik,
diversen Anreizen zum zugreifen, ein verführerisches Angebot, Lächeln,
Zuneigung. Wir konzentrieren uns auf das Geschmackserlebnis. Die entsteinten
Kirschen aus südlichen Landen, eingelegt und schokoladenverpackt,
die subversive Form der ordinären Cognacpraline ...
Vom "Willen"
ist es zu viel verlangt, diesem Programm entgegensteuern zu sollen -
diesen Kampf wird das Wollen verlieren. "Mein Liebling - dies
Praline gibt es im Fünferpack aufwärts - mach sie doch alle"
- niemand sagt das in dieser Form, das Warenangebot präsentiert
sich aber so.
Resultat: Man sieht sich als willensschwach - Die These: " Der
Geist ist willig, das Fleisch ist schwach" beweist sich - wie von
der Biologie vorgegeben. Wer sich gar einen Heißhunger anhungert, wird
die Beherrschung, die Selbstkontrolle mit ziemlicher Sicherheit verlieren,
solange irgend etwas eßbares erreichbar ist. Gegen den Heißhunger
ist kein Kraut gewachsen.
Und gleich wachen wir wieder auf - 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 -
jetzt. Jetzt ist der Moment, wo wir die resignierte Einstellung, gegen
Heißhunger könne man nichts tun, aufbrechen müssen.
Heißhunger
entsteht, wenn wir uns unbewusst bestimmte Szenen vorstellen.
Ein guter Teil des Heißhungers scheint von der Ebene der Vorstellungen
und der Wünsche zu kommen. Wenn man die Phantasie trainieren kann,
kann man sie auch lenken, oder sich ablenken. Um Heißhunger zu
entwickeln, muss der Verstand, der Sinn für die eigene Fürsorge,
abgeschaltet sein, da ein selbst-fürsorgliches "Selbst"
hier Vorsorge treffen würde, statt das Bedürfnis immer weiter
zu stimulieren.
V o r dem Heißhunger war ein anderer, "normaler"
Hunger - der ist übergangen, nicht berücksichtigt worden.
Wahrscheinlich ist dieser "Normalhunger" sogar noch verstärkt
worden. D a n n ist der Verstand in den Ruhezustand
versetzt worden. Was danach kommt, bedarf keiner weiteren Erklärung.
Nach dem Fressanfall kommt der "Kater", das beschämende
Gefühl, die Selbstkontrolle verloren zu haben - wo man sich doch
so lange kontrolliert hatte. Aber: Eine verbietende Kontrolle ist eben
keine wissende Fürsorge. Ein Hunger ergibt den nächsten -
der sollte dann gestillt werden.
Du kannst Dich natürlich auch in eine Ecke setzen und warten,
bis die Heißhungerphase vorbeigeht - aber ein Mangel lässt sich nicht
durch die Verstärkung des Mangels (in diesem Fall nichts essen) beheben.
Ein Apfel oder anderes Obst ist genehmigt.
Wie wandlungsfähig der Hunger ist, darüber gibt es wohl wenige
Untersuchungen. Dass Heißhunger auch auf Vitamin- und Mineralienmangel
hindeuten könnte, wird gerne behauptet:
"Haben Sie in letzter Zeit öfter das Verlangen,
ein Joghurt zu löffeln? Und mögen Sie Käse plötzlich besonders gern?
Dann könnte das ein Zeichen dafür sein, dass Ihr Körper zu wenig Calcium
bekommt. Falls Sie auch noch Kniebeschwerden haben, dann verdichtet
sich das Bild. Denn möglicherweise repariert ihr Körper eine Verletzung
und benötigt dazu größere Mengen dieses Mineralstoffes. Heißhunger ist
nicht unbedingt eine pure Laune unseres Organismus."
Oder:
"Es kommt immer auf den sog. Heißhunger an.
Appetit kann auch entstehen, wenn Du z.B. vor dem Fernseher
sitzt und zusiehst, wie jemand im TV etwas Leckeres knabbert. Diese
Form der Animartion - oh lecker, das will ich auch essen - wird massiv
von der Werbung ausgenutzt."
Heißhunger könnte auch auf Bewegungsmangel hindeuten. Oder
auf einen Mangel an Umwelterleben. Wer sich viel an der frischen Luft
aufhält, entwickelt keinen gierigen Hunger.
Wir hatten gesagt, dass ein Hunger den nächsten ergibt. Für
den Durst ist belegt, dass das Gleiche gilt, mit einer qualitativen
Verschiebung. Aber das ist ein
anderes Thema.
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