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Oralität: Ursachen der Adipositas in der kindlichen Entwicklung?
   

Die Anfänge des Übergewichts

Die Frage, ob im wissenschaftlichen Sinne von einer Fettsucht gesprochen werden kann, oder ob das Problem als Adipositas bezeichnet werden sollte, mag noch unentschieden sein - es gibt Mediziner, die hier keine stoffbedingte Abhängigkeit sehen und deshalb den Begriff Sucht ablehnen.


Sicherlich gibt es jedoch nahrungsbedingte Auswirkungen auf die Befindlichkeit, und das Wort "Fresssucht" gehört schon lange zu unserem Sprachschatz.
Suchtmittel setzen zum Teil das Bewusstsein bis zum Schlafzustand herab, können unangenehme/schmerzhafte Gefühle vermindern ...
Dass dies auch beim Essen so sein kann, finden wir z.B. im Märchen von der "klugen Else" geschildert.

Deren Fallbeispiel zumindest zeichnet eine ängstliche, wenig autonome Persönlichkeit, die mehr mit ihren Phantasien, Ängsten, Träumen und natürlich dem Essen als mit der Arbeit oder der Durchsetzung ihrer Interessen beschäftigt ist. Nach der Fähigkeit, zu geniessen, wäre bei ihr und ihrer Familie noch zu fragen. Ob, oder dass sie übergewichtig gewesen wäre, wird nicht berichtet und könnte auch offenkundig nicht ihr Hauptproblem, sondern "nur" das Symptom sein.

Mathematisch betrachtet, hängt Übergewicht mit Art, Umfang und Häufigkeit des Essens zusammen, und auch bei der Ernährungform oder Ernährungsweise gibt es eine Entwicklung, deren Beginn - abgesehen von der Zufuhr über die Nabelschnur - kurz nach der Geburt beginnt.
Und schon zu diesem Zeitpunkt ist "das Essen" ein sozialer Akt; die biologisch vorgegebene, bevorzugte Geschmacksrichtung ist "süß", da sowohl Fruchtwasser als auch Muttermilch süß schmecken.

Die Empfindungen in dieser Zeit legen den Grundstein für das Befinden des Kindes, Jugendlichen und Erwachsenen - nur wissen wir sehr wenig über diese ursprüngliche Wahrnehmungsqualität.
Von R. SPITZ gibt es den Aufsatz "Die Urhöhle", in dem er, wie der Titel schon andeutet, die orale Zone als höhlenartige Urzone, durch die der Säugling sich erlebt, beschreibt. Wenn die Selbstwahrnehmung sich (anfangs) auf diese Zone zentriert, erlebt der Säugling sich gewissermaßen durch den und als Mund, mit all seinem Hunger und seinen Affekten - zudem ist die Ernährung, das "Stillen" und das Umsorgt-werden gerade in dieser Phase überlebenswichtig.

Beides ist nicht immer selbstverständlich, und der Säugling muss sich, auch, wenn er optimal versorgt wird, anstrengen, zu bekommen, was er braucht. Die Anstrengung besteht sowohl darin, auf sich aufmerksam zu machen, als auch - zunächst - im Saugen. Dass Sättigung von Anfang an durchaus lustbetont sein kann, leuchtet unmittelbar ein; angenehme orale Empfindungen (z.B. des ausgefüllten Mundraumes) verknüfen sich mit dem Verschwinden des unangenehmen Hungergefühls.
Es gibt Phasen, in denen sich "Essen" und Schlafen abwechseln - mag sein, in solchen Phasen ist das Schlafen noch vor der Wachwahrnehmung die Hauptbeschäftigung, unterbrochen durch die lästigen Hungergefühle.

Zu großen Teilen ist es Erziehungssache, welche Formen und Vorlieben der Nahrungsaufnahme sich herausbilden:

Überversorgung könnte zu mangelnder Anstrengungsbereitschaft, aber auch zur Angst vor Unterversorgung führen, aus anderen Schieflagen oder Mangelzuständen kann bleibende Gier entstehen, usw...

Auch nach dem Abstillen, und wenn das Kind schon krabbeln oder laufen kann, bleibt die orale Zone noch für eine Weile bestimmend, und die Eltern müssen aufpassen, was die Kleinen so alles an gefährlichen Sachen in den Mund stecken, und mit dem Spracherwerb entstehen wichtige und oft wiederholte Fragen wie "kann man das essen?"

Brei ist für die zahnlosen Kleinen, was es irgendwann parallel zur Muttermilch gibt, feste Nahrung folgt später.

Ein "Diät-Shake" stellt in gewisser Weise die Rückkehr zu Übergang von Muttermilch zur Brei-Nahrungsform dar, handelt es sich doch auch von der Konsistenz her um etwas verdünnten Brei.

Psychoanalytisch müsste man hier von einer Regression ohne Therapeutischen Nutzen sprechen, bei der wichtige Ich-Funktionen (Auswahl, Einkaufen (Aushandeln), Zubereitung (Autonomie) und Kauen (Durcharbeiten, Bemächtigung) beschnitten (kastriert) werden.

Das übermächtige Über-Ich ("Hast Du Dich wieder mal nicht an die Regeln halten können") verurteilt im Falle des Scheiterns der Diät das schwache Ich ("Ich hatte aber solchen Hunger/solche Lust auf ..."), das sich mit seinem triebhaften Es ("willst Du mir denn gar nichts mehr gönnen?") nun auch nicht mehr versöhnen ("Dann esse ich halt das, was gut ist und schmeckt, aber bestimmt nicht zu viel, ätsch") mag oder kann: "Ich bin ja so schwach und ohnmächtig".

Wenn das so ist, kann ich mich ja auch daran halten, der "Versuchung erliegen", denn nach ein paar Kilo Gewichtszunahme wird schon wieder eine "gute Fee" mit einem Zaubermittel kommen und mich erlösen: "Am besten, du machst mal eine ganz einfach zu kontrollierende, radikale Diät, bei der Alles, was Du zu Dir nimmmst, abnehmtechnisch zertifiziert und sicher ist."

Bis zu einer wirklichen Eigenverantwortung vergeht einiges an Zeit und wird viel erzogen, belohnt und bestraft, oft nur, um bestehende Traditionen zu bewahren oder gegebene Angebote anzunehmen, weniger, um bewusste Entscheidungen zu treffen.

Die Raucher unter uns wissen, wie es ist, wenn man sich "alle naselang" etwas in den Mund steckt, und die Süßwarenindustrie sorgt dafür, dass Raucher und Nchtraucher immer etwas zum Naschen haben ...

Die Bedeutung der Ernährung spielt in anderen Phasen natürlich nicht mehr die Hauptrolle im Leben, aber auch, wenn das Behalten, das Machen oder die Fortpflanzung die beherrschenden Themen sind, bleiben die oralen Empfindungen wichtig. Manchmal schieben sie sich (wieder) in den Vordergrund und verdrängen die wichtigeren Fragen ...

Noch beim Erwachsenen haben die
„.. Speisen ... vermutlich einen sehr großen Einfluss auf den Zustand des Menschen, wo er jetzo ist. Der Wein äußert seinen Einfluss mehr sichtbar, die Speisen tun es langsamer, aber vielleicht ebenso gewiss.“ (G. C. Lichtenberg 1742–1799)

 

 


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