Aus früheren Erzählungen meines Vaters ist mir
folgendes in Erinnerung geblieben:
Ein riesiger, mit Stacheldraht eingezäunter Platz
in Südfrankreich. Darauf in langen Reihen aufgestellte niedrige,
schwarze Zelte vom Typ "Hundehütte", Betonboden, acht
Mann pro Zelt, keine Matratzen, nur eine dünne Decke. Über
vierzig Grad im Schatten - aber da war kein Schatten, in den schwarzen
Zelten wurde es noch heißer.
Verpflegung: Trocken Brot, Wasser/"Tee",
dünne "Suppe". Manchmal nur zwei Mahlzeiten am Tag,
sets nur die halbe Ration. Keine Beschäftigung, nichts zu
tun. Schachspieler riefen sich die Züge zu, hatten die Partie auch
ohne Brett im Gedächtnis. Ständiger Hunger, keine Verbindung
zu den Angehörigen.
Einmal luden die Bewacher jenseits des Zaunes einige Säcke
mit Mehl ab, übergossen sie mit Benzin und zündeten sie an.
Es brannte stundenlang, schwarzer Rauch und Gestank, der Gruch verbrannten
Brotes, zogen über das Lager ...
Fast idyllisch eine andere Schilderung:
"Als ich achtzehn war, war ich in einem abgepuderten amerikanischen
Lager ... , ein kurzgeschorener Kriegsgefangener, der bei neunhundertfünfzig
Kalorien pro Tag ... fleißig Lehrgänge besuchte. ... jeden
Mittwoch und Sonnabend gab uns ein ehemaliger Hotelkoch - den jetzt
jedermann als Fernsehkoch schätzt - einen Kochkurs für Anfänger.
...
Da Mangel den Lehrplan bestimmte, lehrte Brühsam das Kochen
mit Zutaten aus der Luft gegriffen. Er imaginierte Rinderbrust Kalbsnieren
Schweinebraten. ... Fasan auf Weinkraut und ... Karpfen in Biersoße
... .
Während wir großäugig vergeistigt ... in der Unterrichtsbaracke auf Schemelchen hockten und Brühsam
lauschten, füllten sich unsere Oktavheftchen ... mit Rezepten, die uns zehn Jahre später verfetten ließen."
(Aus: Günter Grass: örtlich betäubt, FTB, 1972)
Mein Vater hat nicht oft und nicht viel von diesen Erfahrungen gesprochen.
Wie solche Erfahrungen - die Angst, zu verhungern, wird dazu gehören
- verarbeitet werden können, ist in unserer Vergangenheit kein
Thema gewesen. Kollektiv nehmen wir noch heute hin, wenn Hungersnöte
herrschen und Menschen verhungern, weil das eigene Trauma nicht verarbeitet
ist, können wir kein Mitleid entwickeln.
Die Ohnmacht der Gefangenen, ihr Hass gegen die Bewacher, die unmenschliche
Behandlung - das war alles einkalkuliert und gewollt. Langeweile, quälender
Hunger, unmenschliche Bedingungen, sadistische Wärter; Ungewissheit
über die Zukunft, die Bedingungen der Gefangenschaft sind zermürbend.
Grass stellte die Verfettung in den "Wiederaufbaujahren" mehr
als selbstverschuldet dar, kaum andeutungsweise als Folge einer Sucht,
die sich aufgrund der Mangelerfahrung herausbilden musste.
Dass die kollektive Hallunzination beim "Kochunterricht"
Bedürfnisse weckt und verstärkt, ist anzunehmen. Eine Geschmacksschulung
per Mattscheibe findet nicht statt. Noch weniger eine Bewältigung
des alten Traumas, da noch immer das historische "zu wenig"
mit dem aktuellen "zu viel" kompensiert wird.
"Der Hunger geht um in Deutschland, Professoren beweisen, daß Kleie denselben Nährwert habe wie Mehl, saccharingesüßte Marmelade bekömmlicher sei als Butter, Kartoffelkraut den Nerven zuträglicher und so gut schmecke wie Tabak. Die Lehren der Professoren dringen nicht bis zum Magen, der antwortet dem Unsinn auf seine Weise, die Menschen verfallen, erkranken, verzweifeln.
Ein deutsches Sprichwort heißt »Hunger ist ein guter Koch«. Mir graust vor diesem Koch, als ich eines Abends vor der Neu-Ulmer Kaserne russische Kriegsgefangene sehe, die auf der Fahrt in ein neues Lager den Zug wechseln, sie stürzen sich auf die Tonnen, in die die Köche Kartoffelschalen und Abfall, die Soldaten Reste ihres Essens, verschimmeltes Brot und Knochen, geworfen haben, sie greifen mit ihren Händen in den säuerlich stinkenden Schleim, sie stopfen das Schweinefutter in den Mund.
Wenn wir die Kaserne verlassen, stehen Haufen von bettelnden, ausgemergelten Kindern vorm Tor, froh, ein Stück Brot zu ergattern." ( Ernst Toller)
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