Wie der Taoismus nach Deutschland kam: Ein Gedicht zum Tao-Te-King

Wenn der letzte Beitrag schon die Beziehung zwischen der Zeitkrankheit Depression und Sinnlosigkeit angesprochen hat, wurde dort doch noch versäumt, aufzuzeigen, woher denn, wenn der alte Sinn abhanden gekommen ist, ein “neuer Sinn” zu nehmen sei.
Mit der Übersetzung von Richard Wilhelm,. der ersten brauchbaren Version des chinesischen Tao te king, war das Buch der Weisheit auch in Deutschland angekommen, wenn auch nur von wenigen bemerkt. Berühmt und allgemein bekannt ist es hierzulande noch immer nicht, aber ein wunderschönes Gedicht von Berthold Brecht ist ein Wegweiser hin zu einem der wichtigsten Bücher auf der Welt:

BERTOLT BRECHT
LEGENDE VON DER ENTSTEHUNG DES BUCHES ‘TAO TE KING’
AUF DEM WEG DES LAOTSE
IN DIE EMIGRATION


Das Gedicht könnte ein schöner Einstieg in die “Welt” des Tao-Te-King sein – ein Buch, in dem es nach der o.a. Übersetzung hauptsächlich um den “Sinn” geht.
Lasst das Gedicht einmal auf Euch wirken.
Die folgende Zeichnung steht nur mittelbar im Zusammenhang damit: Sie stammt von einem Schüler aus einem Lehrgang für junge Immigranten.

Aber sie zeigt auf eine herrlich unverblümt-offene Art, welche absurden Situationen sich bei den “Integrationsbemühungen” ergeben können.

Was will man da machen, außer einer guten Miene zum blöden Spiel?

In anderen Situationen gibt es andere Optionen und Alternativen, aber es scheint, als hätte der mit einem gesunden Optimismus ausgestattete Praktikant die Maxime des Lao-Tse: “Dass das weiche Wasser mit der Zeit den harten Stein besiegt” intuitiv verinnerlicht.

BERTOLT BRECHT

LEGENDE VON DER ENTSTEHUNG DES BUCHES ‘TAO TE KING’

AUF DEM WEG DES LAOTSE

IN DIE EMIGRATION

Als er siebzig war und war gebrechlich,
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh’,
Denn die Weisheit war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.
Und er packte ein, was er so brauchte:
Wenig. Doch es wurde dies und das.
So die Pfeife, die er abends immer rauchte,
Und das Büchlein, das er immer las.
 
Weißbrot nach dem Augenmaß.

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es,
als er ins Gebirg den Weg einschlug.
Und sein Ochse freute sich des frischen Grases
Kauend, während er den Alten trug.
Denn dem ging es schnell genug.

Doch am vierten Tag im Felsgesteine
Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:
„Kostbarkeiten zu verzollen?” „Keine.”
Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:
„Er hat gelehrt.”
Und so war auch das erklärt.
Doch der Mann in einer heitren Regung
Fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?”
Sprach der Knabe: „Daß das weiche Wasser in Bewegung
Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst, das Harte unterliegt.”
Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre,
Trieb der Knabe nun den Ochsen an.
Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre.
Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann
Und er schrie: „He, du! Halt an!”
 
„Was ist das mit diesem Wasser, Alter?”
Hielt der Alte: „Interessiert es dich?”
Sprach dem Mann: „Ich bin nur Zollverwalter,
Doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich.
Wenn du’s weißt, dann sprich!
Schreib mir’s auf. Diktier es diesem Kinde!
So was nimmt man doch nicht mit sich fort.
Da gibt’s doch Papier bei uns und und Tinte
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.
Nun, ist das ein Wort?”
 
Über seine Schulter sah der Alte
Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.
Und die Stirne eine einzige Falte.
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.
Und er murmelte: „Auch du?”
 
Eine höfliche Bitte abzuschlagen
War der Alte, wie es schien, zu alt.
Denn er sagte laut: „Die etwas fragen,
Die verdienen Antwort.” Sprach der Knabe:
„Es wird auch schon kalt.”
„Gut, ein kleiner Aufenthalt.”
Und von seinem Ochsen stieg der Weise,
Sieben Tage schrieben sie zu zweit.
Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte
nur noch leise
Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).
Und dann war’s so weit.
 
Und dem Zöllner händigte der Knabe
Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein
Und mit Dank für eine kleine Reisegabe
Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.
Sagt jetzt: kann man höflicher sein?
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Name auf dem Büchlein prangt!
Denn man muß dem Weisen seine Weisheit
erst entreißen.
Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie ihm abverlangt.
 

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6 Kommentare zu “Wie der Taoismus nach Deutschland kam: Ein Gedicht zum Tao-Te-King”

  1. […] zuvor soll hier noch ein Blick auf das Tao-Te-King riskiert werden, dieses heilige Buch, das den philosophischen Hintergrund dieser Medizin […]

  2. […] Schrift (70) im Tao-te-King […]

  3. […] nicht um die Mündigkeit des Verbrauchers. Der muss von der “uralten Weisheit”, wie sie im Tao-Te-King und an vielen anderen Stellen der Überlieferung zu finden ist, ja nichts wissen. Bei den Treffen […]

  4. […] ‘TAO TE KING’ und das I-Ging – zum […]

  5. […] aufgenommen, wenn Du eins bist mit dem Verlust, wirst Du vom Verlust mit Freuden aufgenommen. (Tao-Te-King, […]

  6. […] können hier an den Auszug des Lao-Tse […]

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